Edward Elgar
Symphonie Nr. 1 As-Dur, op. 55
Cockaigne. In London Town, op. 40
Nationaltheater-Orchester Mannheim
Leitung: Alexander Soddy
OehmsClassics OC1730 I 1 CD, Vertrieb Deutschland: Naxos
Vom Schlaraffenland zu den Sternen
Alexander Soddy und das Nationaltheater-Orchester Mannheim spielen Elgar
Am Vorabend der Londoner Erstaufführung am 7. Dezember 1908 begrüßte der große Dirigent Hans Richter die Musiker des London Symphony Orchestra mit den Worten: „Meine Herren, lassen sie uns nun die größte Symphonie der Gegenwart proben, geschrieben vom größten lebenden Komponisten - und zwar nicht nur dieses Landes.“ Diese Ankündigung dürfte für ein Aufhorchen gesorgt haben, zumal es sich bei der angekündigten Symphonie um den symphonischen Erstling des Komponisten handelte, eines Komponisten, der sich seinen Namen nicht ausschließlich, aber doch vornehmlich durch die Komposition von chorsymphonischen Werken gemacht hatte: Edward Elgar.
Doch Richter wusste wovon er sprach, schließlich hatte er das Werk drei Tage zuvor in Manchester mit dem Hallé Orchestra aus der Taufe gehoben. War das Werk bereits in Manchester gut aufgenommen worden, so ging das Publikum in der Londoner Queens Hall nach dem Verklingen des letzten Tones vor Begeisterung wortwörtlich über Tisch und Bänke. Es war ein geradezu rauschhafter Erfolg. Heute gilt Elgars erste Symphonie – zumindest in der anglo-amerikanischen Welt – als ein Standardwerk des Repertoires. In Deutschland indes ist das Werk insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg nur selten gespielt worden. Umso erfreulicher ist es, dass man seit etwa zwei Dezennien das Werk (und seinen Komponisten) peu à peu für den Konzertsaal wiederentdeckt.
Die Interpretationsgeschichte des Werkes lässt sich anhand vieler Aufnahmen gut nachvollziehen. Beginnend mit Elgars eigener Aufnahme mit dem London Symphony Orchestra aus dem Jahre 1930, hat sich ein umfangreicher Korpus gebildet, der die sich wandelnde Sicht auf das Werk gut dokumentiert. Der deutsche Beitrag zu der 94 Jahre umspannenden Diskographie ist allerdings einigermaßen überschaubar. So legte Sir Colin Davis 1998 eine Aufnahme mit der Staatskapelle Dresden vor, ein Jahr später dann folgte Sir Roger Norrington mit dem SWR Radio-Sinfonieorchester Stuttgart. Und nach 17 Jahren Pause meldeten sich 2016 schließlich Daniel Barenboims und die Staatskapelle Berlin mit einer Neuaufnahme. Und das war es dann auch schon.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders erfreulich, dass bei OehmsClassics nun eine weitere Aufnahme der ersten Symphonie Elgars erscheint, die aus Deutschland stammt. Ist das an sich schon Grund genug, sich mit ihr zu beschäftigen, so kommt noch ein weiterer Punkt hinzu. Denn weder handelt es sich um eine Aufnahme mit einem deutschen Spitzenorchester noch ist der Dirigent ein wohlvermarkteter Pultstar. Was im ersten Moment despektierlich klingen mag, ist tatsächlich gegenteilig gemeint. Denn die Ausführenden dieser Aufnahme – das Nationaltheater-Orchester Mannheim und der britische Dirigent Alexander Soddy – legen mit dieser Neuproduktion ein beredtes (und im Übrigen verallgemeinerbares) Zeugnis dafür ab, auf welch hohem technischen und interpretatorischen Niveau sich die Elgar-Pflege in deutschen Konzertsälen auch jenseits der großen Aufführungsstätten gegenwärtig bewegt.
„Humorvoll, stark, aber nicht vulgär“
Dem Mitschnitt der ersten Symphonie ist ein weiterer vorangestellt. Und so eröffnet Elgars Konzertouvertüre „Cockaigne. In London Town“ aus dem Jahre 1901 diese CD. Und – um es gleich vorweg zu sagen – es ist ein höchst gelungener „Ear-opener“, mit dem Soddy und das Ensemble in Elgars Klangkosmos einführen. „Cockaigne“ – das war im Mittelalter eine Art herrliches Schlaraffenland, in dem alles zu finden ist, was das menschliche Herz begehrt, eine Gegenwelt zum von Armut und Mühsal geprägten Jammertal. Bei Elgar übernimmt London, zu seiner Zeit das Zentrum eines Imperiums, diese Rolle. Hier war alles möglich. Entsprechend positiv ist der Grundton des Werkes. Elgar selbst charakterisierte es in einem Brief an seinen Freund und Lektor August Jaeger als „fröhlich und londronisch – ‚derb und fleischig‘.“ Soddy und das Mannheimer Orchester stürzen sich mit Elan und einem gerüttelten Maß an Spielfreude in die Gestaltung dieses musikalischen Abbildes der quirligen Metropole. Sofort ist man mitten drin im urbanen Getöse. Schön gelingt die atmosphärische Veränderung bei der Einführung des zweiten Themas, das Elgar bei einem Besuch der Londoner Guildhall eingefallen ist. „Nobilmente“ soll das klingen und ja: Soddy kitzelt diesen Elgar-spezifischen Ton mühelos aus den Musikerinnen und Musikern des Mannheimer Orchesters heraus. Weiter führt der Weg – so ist die Passage später zumindest gedeutet worden – durch einen Park, wo ein liebliches Thema in Es-Dur ein Liebespaar skizzieren mag, das die Streicher „dolcissimo“ und genussvoll ausspielen. Sehr schön auch der stetige und konsequente Spannungsaufbau hin zu dem plötzlichen Einfall eines lärmenden Militärmarsches, der knackiger kaum daherkommen könnte. Allerdings wird hier das Pulver etwas zu schnell verschossen. Und so fehlt im Augenblick des eigentlichen Höhepunktes dieser Episode (und der Durchführung), beim „Grandioso. Tutta forza“ (Partiturziffer 18), dann doch das letzte Quäntchen Kraft, das vonnöten gewesen wäre, um die Klimax als solche klanglich prägnant Aber im Grunde ist das eine Petitesse. Insgesamt überwiegt bis hier und auch von hier an bis zum Schluss der äußerst positive Eindruck, denn Dirigent und Orchester führen den geneigten Hörer mit fast durchweg unbestechlicher gestalterischer Akkuratesse und Verve durch das Werk.
„Ich komponiere himmlische Musik…“
„E. viel Musik. Spielte eine großartige schöne Melodie", schreibt Edwards Frau Alice am 27. Juni 1907 in ihr Tagebuch. Es ist nicht klar, ob diese Melodie Eingang in die erste Symphonie Elgars gefunden hat, deren Komposition er erst Ende desselben Jahres begonnen hat. Hört man das wunderbare Motto-Thema, mit dem Elgar seinen symphonischen Erstling eröffnet, so mag man durchaus auf den Gedanken kommen, dass es so sein müsse. „Andante. Nobilmente e semplice“ soll dieser Beginn gespielt werden. Seit Elgars eigener Aufnahme ist diese Anweisung höchst unterschiedlich aufgefasst worden. Von elegantem Elan bis hin zum solennen Pomp ist alles an möglichen Einstiegen in dieses Werk vertreten.
Soddy orientiert sich – hier und im Grunde bei seinem gesamten Zugriff auf das Werk – an Elgars eigener Darstellung. Dementsprechend wählt er ein bewegt-schreitendes Tempo, lässt luftig und fettfrei artikulieren und vermeidet – wohl eingedenk des notierten „Semplice“ – auch in der Fortissimo-Wiederholung ein Zuviel an Pathos. Bewegung: das ist ohnehin der Begriff, der Soddys Darstellung des Kopfsatzes am besten beschreibt. Seine Lesart ist durchweg durch einen merklichen Zug nach vorn gekennzeichnet. Auch in langsameren Abschnitten ist ein drängender, ja kämpferischer Grundpuls spürbar. Auch wenn der Satz auf diese Weise nicht nur mitreißend wirkt, sondern es im ersten Moment auch ist, so beinhaltet er doch noch erheblich mehr als nur furiose Bewegung. Tatsächlich führt die starke Fokussierung auf den Blick nach vorn zu einer nicht immer vollständig überzeugenden Binnengestaltung und einer Nivellierung des emotionalen und atmosphärischen Spektrums, das diesen Satz auszeichnet. Hier wäre ein größeres Augenmerk auf die Kontrastierung der atmosphärisch bisweilen doch sehr unterschiedlichen Episoden wünschenswert gewesen.
Soddys hochtouriger Ansatz bekommt dem zweiten Satz („Allegro molto“) deutlich besser. Mit Rasanz stürzen sich Soddy und das Nationaltheater-Orchester in den nervös-irrlichternden, stark rhythmusbetonten und virtuosen Satz. Enorm eindrucksvoll gelingt nicht nur die grelle, an Mahler gemahnende Marschepisode (Ziffer 59: "marcato"), sondern auch das ebenso unheimliche wie aggressive Brodeln der Streicher ab Ziffer 64. Die atmosphärische Kontrastierung des lieblichen Trio-Abschnittes, von dem Elgar wollte, dass er wie etwas gespielt würde, das man „unten am Fluss hören“ könne, gelingt zwar besser als im ersten Satz, könnte aber noch ein wenig intensiver sein. Insgesamt jedoch eine gelungene Tour de Force, die letztlich – und die Gestaltung dieses Ausatmens gelingt Soddy vorbildlich – nach und nach abebbt und in das Adagio übergeht.
Soddy und das Mannheimer Orchester präsentieren diesen vielleicht am goldensten klingenden Satz Elgars eher als Aquarell denn als Ölbild, mit einem Sinn für volltönende, aber in keinem Fall fette Klangfarben. In ruhigem, jedoch stets fließendem Tempo geht es in den Satz hinein. Schön gelingt die Steigerung hin zum ersten Höhepunkt („molto espressivo“) kurz nach Ziffer 93. Die Vorstellung des zweiten Themas durch die Violinen dann wirkt vielleicht etwas nebensächlich. Hier fehlt etwas der Mut zu einer expressiven Sanglichkeit. Ab und an wirkt die Darstellung darum etwas nüchtern, wobei sich insbesondere im späteren Verlauf kontinuierlich Momente großer Innigkeit und Intensität einstellen – beispielsweise bei Partiturziffer 104 (Streicher: Molto espressivo e sostenuto.) Da treffen die Musikerinnen und Musiker ganz herrlich jenen herbstlichen Ton, der viele der Werke Elgar prägt und einzigartig macht.
Der atmosphärische Wechsel hin zum zwielichtig-undurchsichtigen Beginn des Finales gelingt überzeugend. Resolut stellen Soddy und das Orchester das erste forsch auffahrende Thema vor, das zweite indes könnte etwas heroischer daherkommen. Und doch wird im folgenden der Zweikampf der Themen hin zur Apotheose, der Weg „per aspera ad astra“ sehr knackig und mitreißend gestaltet. Ganz besonders emotional wird es dann in der Passage ab Partiturziffer 130 („cantabile“), in den die Stimmung ins Erhabene kippt und sich die unmissverständliche Gewissheit einstellt, dass der Satz bei aller Dramatik alsbald auf ein leuchtendes Ende zusteuern wird. In Folge lässt Soddy den Grundpuls noch einmal etwas schneller schlagen, sodass der Satz mit geradezu enormer Velozität auf sein glanz- und glutvolles Ende, nämlich die Apotheose des Motto-Themas zueilt. Soddy und dem Nationaltheater-Orchester Mannheim ist der Weg zu den Sternen geglückt.
Hörenswert!
© Wolfgang-Armin Rittmeier
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Edward Elgar
Edward Elgar
Violinkonzert op. 61; Sonate für Violine & Klavier op. 82
Thomas Albertus Irnberger, Violine
Michael Korstick, Klavier
Royal Philharmonic Orchestra; James Judd, Leitung
Gramola 99141, Vertrieb Deutschland: Naxos
VÖ: 15. März 2019
„… voller goldener Klänge …“
Zur Neueinspielung von Elgars Violinsonate und Violinkonzert
Immer wieder wird auf den grenzenüberwindend kulturverbindenden, vermeintlich internationalen Charakter von Musik hingewiesen. Dass dem – leider! – nicht so ist, beweist doch die relativ seltene Präsenz von Elgars Werken im deutschen Sprachraum. (Dafür sind beispielsweise Pfitzner oder Reger in England nicht bekannt, und Bruckner findet in Frankreich kaum Verständnis.) Nein, große Musik ist zunächst immer an einen Kultur- und Geistesraum gebunden, zumal, wenn sie derart idiomatisch ist wie die Edward Elgars. Daher lässt diese CD aufhorchen, denn hier nimmt sich Thomas Albertus Irnberger Elgars Violinkonzert und auch der Violinsonate an – eine naheliegende, allerdings nicht sehr häufige Koppelung.
Irnberger ist ein Mittdreißiger aus Salzburg, der bereits eine beeindruckend große wie reichhaltige Diskographie vorweisen kann. Voll musikantischem und virtuosem Impetus stürzt Irnberger sich in Elgars musikalische Welten und macht sich dessen ganz spezifische musiksprachliche Idiomatik hörbar lustvoll zu eigen. Dabei gestattet er sich auch romantische Drücker und die zeittypischen Portamento-Schleifer „vor dem Schlag“, was der Authentizität seiner Darstellung nur zugutekommt. Ein kleines Manko in Irnbergers insgesamt glutvoller Gestaltung ist das fehlende Vibrato auf mancher Neben- und Durchgangsnote, was die den Bogen der melodischen Linie zuweilen uneinheitlich erscheinen lässt. Doch ist dies beckmesserisch angesichts einer insgesamt bestechenden musikalischen Leistung.
„Waldzauber“
In Elgars Œuvre eröffnet die Violinsonate als op. 82 die Trias der späten und enigmatischen Kammermusikwerke, gefolgt vom Streichquartett op. 83 und dem Klavierquintett op. 84. An diesen Werken (und dem Cellokonzert op. 85) arbeitete Elgar überlappend in seinem Cottage „Brinkwells“ in Sussex ab dem Sommer 1918. Die verwunschene Umgebung rund um das (heute als Ferienhaus zu mietende) Cottage steht dabei in Kontrast zu Elgars innerer Stimmung gegen Ende des „Great War“. Und doch entstanden hier in Elgars letztem großen kreativen Schub seine keinem Schema unterworfene Kammermusik, in der er sich so individualistisch wie experimentierfreudig auslebte.
Elgar schlägt mit der Violinsonate ein ganz neues kammermusikalisches Kapitel auf, was seine Frau Alice im August 1918 sogleich in ihrem Tagebuch notiert, wobei sie Elgar als „E.“ und sich selbst als „A.“ bezeichnet: „E. schreibt wunderbare neue Musik, sie ist ganz anders als seine übrigen Werke. A. nennt sie Waldzauber. So flüchtig und zart.“ Zwar ist der Kern der Sonate durchaus „flüchtig und zart“, jedoch beginnt das eröffnende Allegro mit kernigem „risoluto“, wobei Violin- und Klavierpart in der Gestaltung von „sprunghafter“ Melodie und durchlaufender Achtelbegleitung zunächst alternieren. Die geigerische Energie von Thomas Albertus Irnberger überträgt sich im explosiven Sonatenbeginn unmittelbar auf den Hörer, jedoch zeigt sich im weiteren Satzverlauf der Pianist Michael Korstick dem Geiger an Raffinesse überlegen voraus (etwa in der feinsinnigen Imitation des von der Violine vorgelegten zweiten Themas, neun Takte nach Partiturziffer 3, <3> ab 1‘09“).
Herzstück der Sonate ist deren Mittelsatz, eine langsame Phantasie, über die Elgar an seine Muse Alice Stuart-Wortley schrieb: „… ein spukhafter, merkwürdiger Satz mit einem sehr ausdruckstarken Mittelteil: eine Melodie für die Violine … man sagt, dieser Mittelteil sei so gut wie, wenn nicht sogar besser als, alles andere, was ich bisher an expressiver Musik komponiert habe …“. Dieses merkwürdige Andante endet ebenso offen, wie es beginnt. Für Momente ist man eingesponnen in Anklänge an einen langsamen Walzer, aber alle Melodik wird immer wieder unterbrochen durch fragende Arpeggien und ohne harmonische Zielrichtung mäandernde Floskeln. Der Satz ist eine selbstgenügsame Träumerei, deren lyrische Zellen assoziativ verwoben sind – ein von Elgar bei Robert Schumann („my ideal!“) abgelauschtes Prinzip des Poetischen.
Das finale rondoartige „Allegro, non troppo“ ist eine Synthese der Stimmungen von erstem und zweitem Satz. Die bukolische Grundstimmung wird durch meditative Passagen durchbrochen, in denen die Grundmotive geradezu selbstzweiflerisch zerlegt werden, bis der Satz in einen rauschhaften weltbejahenden Schluss mündet.
An die Widmungsträgerin Marie Joshua schrieb Elgar über das innerhalb eines Monats fertiggestellte Werk: „Es fürchte, es bringt uns nicht viel weiter, aber es ist voller goldener Klänge und ich mag es …“.
„Erinnerung und Hoffnung“
Deutlich besser als in der Aufnahme der Sonate gefällt mir Irnbergers Angang beim Violinkonzert. Er zeigt sich hier – nicht eingeschränkt von kammermusikalischem Feingeist – von beeindruckend freier solistischer Präsenz. Eine gewisse „deutsche“ Gradlinigkeit sorgt dafür, dass Elgars häufige agogische Rückungen nie rhapsodisch ausufern, sondern in ihrer Stringenz die großbogige Architektur stützen. Ich kann nur spekulieren, weshalb Irnberger Elgars Idiom im Konzert bezwingender darstellt als in der Sonate. Es mag daran liegen, dass die Sonate in Irnbergers eigenem (!) Tonstudio produziert wurde, bei der Konzertaufnahme aber ein großes Orchester quasi als Publikum zugegen und beteiligt war. Jedenfalls „riskiert“ der Geiger bei der Konzertaufnahme viel mehr, was den dynamischen Extremen und dem Sprachcharakter von Elgars Musik deutlich zugutekommt.
Irnberger beginnt das 50-minütige Mammutkonzert mit knackigem Zugriff, verfügt aber auch über rhetorisches Charisma für die sphärischen Verschwebungen im Andante (in dessen Beginn man allerdings über manche Unsauberkeit der Holzbläser, insbesondere der Klarinetten, weghören muss). Ansonsten agiert das Orchester auf angemessenem Standard, trotz einiger unverständlicher Ausreißer: Die vier Takte vor Ziffer 66 (<3> ab 0‘17“) sind im „molto allargando“ so wenig zusammen, dass man sich fragt, weshalb der Tonmeister hier keine Korrektur verlangt hat.
Was Elgar über die ausgedehnte Kadenz im Finalsatz schrieb, kann als Motto über dem gesamten Werk stehen: „die Musik singt von Erinnerung und Hoffnung“. Dies kommt in der Kombination der beiden Werke betörend zum Ausdruck, weshalb ich dieser CD eine Empfehlung für Elgar-Fans und alle schwärmerischen Musikliebhaber mitgeben möchte.
© Michael Schwalb
Edward Elgar: The Dream of Gerontius op. 38
Man sagt den Briten ja allerlei nach, beispielsweise auch, dass sie angeblich stets „cool as a cucumber“ - also kühl wie eine Gurke – seien. Das ist natürlich ein Klischee. Doch trägt das Klischee ja auch immer ein Körnchen Wahrheit in sich, und dieses Körnchen Wahrheit kann man in Edward Gardners jüngst erschienenen Interpretation von Edward Elgars erster Symphonie mit dem BBC Symphony Orchestra durchaus wahrnehmen. Um es vorneweg zu sagen: Gardner, der schon immer ein „Champion“ der Werke Elgars gewesen ist, liefert mit seiner bei Chandos erschienenen Lesart eine vollkommen solide Darstellung der „größten Symphonie der Moderne“, wie Hans Richter das Werk kurz vor seiner Uraufführung im Jahre 1908 genannt hat, vor. Und dennoch handelt es sich um eine Aufnahme, die mir wohl nicht lange im Gedächtnis bleiben wird, denn sie ist durch und durch routiniert, von wenig Forschergeist durchdrungen, ohne Mut zum Risiko, kalkuliert und bewegt sich im Rahmen einer – wie ich meine – einigermaßen engen emotionalen Amplitude. Man mag diese Aufnahme vielleicht als ein Dokument der Kunst nobler Zurückhaltung verstehen und sie in der Schublade „edle Einfalt, stille Größe“ ablegen. Dass das Werk im Jahre 1908 aber so einschlagen konnte, wie es eingeschlagen ist, zeigt diese Aufnahme indes nicht.
Gardner beginnt das Werk mit einer fließenden Vorstellung des Motto-Themas, das Alice Elgar zurecht die „große, schöne Melodie“ nannte. Die hochgradig effektvolle Wiederholung in Glanz und Gloria, von Elgar mit „ff“ und „molto sostenuto“ markiert, entfaltet ihre Wirkung hier indes nicht. Ja, das mag als Fortissimo durchgehen, vielleicht wir hier minimal breiter artikuliert – das Pathos dieses einzigartigen Momentes verpufft allerdings spürbar. Es folgt ein zunächst etwas motivationsloser Start in die Exposition, doch das Spiel nimmt bald an Fahrt auf, wenngleich es doch insgesamt an echter Emphase mangelt. Die Vorstellung des zweiten Themas gelingt schön – sehr zart, sehr delikat. Insgesamt hat man jedoch den Eindruck, das Gardner den Musikerinnen und Musikers des BBC SO wenig Raum zum Spiel lässt und stattdessen den Satz stark kontrollierend abarbeitet – mit genauem Auge in der Partitur, einem scharfen Ohr bei der Gestaltung eines durchsichtigen Orchesterspieles (das wirklich sehr luftig gelingt), aber insgesamt eben ohne rechte Begeisterungsfähigkeit. Es ist wie verhext: Zwar ist auch in der Durchführung fast alles da, was zu einer packenden Interpretation gehört – beispielsweise die zwielichtige Atmosphäre ab Ziffer 24, das klangvolle „Grandioso!“ bei Ziffer 28, das enorm zarte Pianissimo bei Ziffer 29 (Meno mosso), knackig akzentuierendes Blech bei dem Achtelabgang – aber es fehlt dennoch immer wieder das letzte bisschen, das I-Tüpfelchen, die endgültige Hingabe. Die Vorbereitung der Coda (etwa ab Ziffer 44) wirkt sehr starr, ja fast ein wenig mechanisch, ihr Beginn dann hingegen fast überflüssig, da der hier angeschlagener versöhnlich-versöhnende Ton eigentlich kaum etwas zu versöhnen hat. Die großen Konflikte, die diesen Satz bewegen und die Jerrold Northrop Moore als „tiefen Narben des Kampfes mit bitterer Verwirrung“ wahrnimmt, sie werden aufgrund der eher glättenden Herangehensweise Gardners nicht so recht deutlich.
Den zweiten Satz (Allegro molto) gehen Dirigent und Orchester höchst griffig an, wobei Gardner hier eher auf die Virtuosität des Satzes denn auf die Darstellung des hier durchweg zu Tage tretenden emotionalen Brodelns fokussiert ist. Und so hat auch die Darstellung der Mahler‘schen Marschepisode nicht durchweg genug Gewicht, Aggressivität und Grellheit. Dennoch, den bisweilen gespenstisch-huschenden Tonfall und die Atemlosigkeit des Satzes trifft Gardner gut. Ebenso untadelig gelingen die halb pastoralen halb unheimlichen Trio-Abschnitte, deren stellenweise undurchsichtige Atmosphäre u.a. durch eine enorme Zurücknahme der Lautstärke effektvoll unterstrichen wird.
Auch die Wiedergabe des langsamen Satzes ist bestimmt von Gardners grundsätzlicher Zurückhaltung.Sie ist durch und durch von einer berückende Zartheit, ja vorsichtigen Zärtlichkeit, einem klaren Sinn für die dieser Musik innewohnenden Schönheit und wirkt auf diese Weise wie eine musikalische Vignette, ein edel ziseliertes Klang-Schmuckstück. Doch ist dies nur die halbe Wahrheit. Arthur Bliss hat einmal geschrieben: „Meiner Meinung nach war er [= Elgar]ein sehr sensibler, hochgradig einfallsreicher, oft beunruhigter Mensch, und wann immer ich den langsamen Satz der ersten Symphonie höre, so sehe ich ihn als Menschen vor mir.“ Es gibt in diesem Satz, da möchte ich Bliss zustimmen, neben Klangschönheit ein Element der Unruhe, des Sehnens, des nostalgischen Rückblicks auf das Ersehnte, auf das für immer Vergangene, ein Element, das Gardner nicht so recht im Blick zu haben scheint. Bei aller spielerischen Expertise – auch im Detail – bleibt dieser Höhepunkt in Elgars Schaffen aufgrund der Tatsache, dass das Profunde des Satzes letztlich nicht herausgeschält wird, einigermaßen blass.
Die langsame Einleitung des Finales gelingt Gardner ausgesprochen gut. Undurchsichtig, nebulös, bedrohlich. Angemessen resolut geht es ins Allegro, in dem Gardner das Orchester zwar zupacken lässt, es aber immer wieder dann abregelt, wenn ein Höchstmaß an Vehemenz gefordert wäre. Insofern verblast auch hier Elgars ständiges Spiel mit Licht und Schatten. Schön gelingen dann die verklärten Takte vor Beginn der Coda (ab 130), die Coda selbst kommt mir zu flott daher, auch hier fehlt – wie schon zu Beginn des ersten Satzes – der Sinn für das Pathetische dieser Symphonie. „In der Mitten liegt holdes Bescheiden“ schrieb Mörike in seinem „Gebet“. Für die Interpretation der ersten Symphonie Elgars bietet sich dieses Motto – das macht Gardners Neuaufnahme klar – nicht an.
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Neben der Symphonie findet sich auf dieser CD noch eine Wiedergabe des „Introduction and Allegro“ op. 47 für Streichquartett und Streichorchester. Auch hier musizieren Gardner und das BBC Symphony Orchestra, hinzu tritt das renommierte Doric Quartet. Das Werk hat ja – schon aufgrund seiner Genese – den Charakter eines Showstückes. Umso mehr wundert man sich, wie schwerfällig und geradezu mechanisch Gardner gleich das stürzende erste Thema spielen lässt, um dann das zweite, das Elgar in der Partitur mit den Worten „Smiling with a sigh“ aus Shakespeares „Cymbeline“ bedachte, einigermaßen zäh anzuschließen (mehr sigh als smile) und schließlich in einer sehr betulichen Darstellung des als „Welsh tune“ bekannten dritten Themas zu gipfeln. Sicher, Elgar notiert als Vortragsbezeichnungen „moderato“ und „largamente“ – aber dass der musikalische Fluss zeitweise fast zum Erliegen kommen soll, kann wohl nicht gemeint sein. Auch das Allegro kommt zunächst ziemlich gemächlich daher. Erst mit dem aus einer punktierten Sechzehntelfigur bestehenden zweiten Thema (Ziffer 10) kommt Bewegung in das Werk. Die Fuge schließlich gelingt ausgesprochen spannend, kontrastreich, farbig, mit der nötigen Verve. Das Spiel des Doric Quartets und der BBC Symphony Orchestras ist tadellos, gut aufeinander abgestimmt, einen Atem atmend. Wer aber eine exzeptionelle Darstellung des Werkes hören möchte, der greife zum Orpheus Chamber Orchestra.
James Ehnes / Andrew Armstrong: Violin Sonatas (Elgar – Debussy - Respighi)
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Elgars Hinwendung zu großformatiger Kammermusik kam spät, vielleicht zu spät. Er hatte zwar bereits 1887 ein Streichquartett und eine Violinsonate komponiert, doch beides selbst nicht anerkannt und wieder vernichtet. Erst über dreißig Jahre später wendete er sich diesem Genre erneut zu. Deprimiert durch den ersten Weltkrieg sowie verstört durch den Lärm und die Hektik der Moderne war er 1918 aus London aufs Land geflüchtet und hatte in Brinkwells, einem abgeschiedenen Cottage in den Wäldern von East Sussex ein neues Zuhause gefunden. Erst dort gewann er wieder die Ruhe und Konzentration, um innerhalb von zwei Jahren die vier Meisterwerke zu schaffen, die sein Werk in der Hauptsache abschließen.
Dass dieser großartige Abschluss nach jahrzehntelanger kammermusikalischer Abstinenz ausgerechnet auf diesem Gebiet gelang (auch das Cellokonzert ist ja in seiner Intimität verglichen mit dem ausladenden Violinkonzert im Wesentlichen kammermusikalisch geprägt), erstaunt und führt zu der Frage, warum sich Elgar plötzlich diesem Terrain zuwandte. Nachdem Elgar in den vorangegangenen zwölf Monaten praktisch überhaupt nichts komponiert hatte, mag ihn der Wunsch geleitet haben, zu abstrakten Formen musikalischen Ausdrucks zurückzukehren. Immerhin hatte er seit seiner zweiten Sinfonie sieben Jahre zuvor kein Werk ohne Text oder Programm geschrieben. Vielleicht sah er nun, angeregt durch die von ihm bewunderten späten Streichquartette Beethovens in späten Kammermusikwerken den Höhepunkt seiner Komponistenlaufbahn. Nachdem er erst mit Fünfzig die Kraft gefunden hatte eine Sinfonie zu schreiben, schien er sich nun mit über sechzig Jahren den Anforderungen einer Sonate, eines Quartetts oder Quintetts an die nötige kompositorische Konzentration und Verdichtung gewachsen zu fühlen. Der Wunsch, mit seinen Kompositionen öffentlich Geltung zu erlangen, war ganz offensichtlich gegenüber dem Verlangen nach einem authentischen und reflektierten musikalischen Ausdruck in den Hintergrund getreten.
Elgars Violinsonate stellt das erste Werk da, das so in einem plötzlichen Anfall von Arbeitswut 1918 entstand. Am Morgen des 20. August 1918 schrieb Elgar lakonisch in sein Tagebuch:
"Habe ein bisschen Musik geschrieben.“ Diese Musik war der Entwurf seiner Violinsonate op. 82, die er in einem Akt musikalischer Selbstwiederfindung anknüpfend an sein erstes veröffentlichtes Werk, der Romanze in e-Moll für Violine und Klavier op. 1 bezeichnenderweise ebenfalls in dieser Tonart innerhalb weniger als einem Monat nahezu fertig stellte. Hier konnte der Geiger Elgar ohne viele Zutaten und großen musikalischen Apparat wieder zu einem persönlichen musikalischen Ausdruck finden. Dass Elgar in diesem Werk erneut zu eigener Stärke zurückgefunden hat, belegt auch ein Blick auf die Tonarten der drei Sonatensätze: während der Erste in e-Moll tonartlich instabil ist, weil er sich häufig in der Grundtonart des zweiten Satzes, a-Moll, bewegt, steht der Schlusssatz ungeachtet der Reminiszenz an den zweiten Satz im letzten Drittel des Finales in E-Dur; ein deutliches Zeichen der von ihm empfundenen kompositorischen Rekonvaleszenz. Eine weitere Motivation für die Wahl dieses Formats mag darin gelegen haben, dass ihn als einer der wenigen von ihm geduldete Gäste in dieser Zeit häufig der Geiger W. H. Reed in seinem einsamen Haus besuchte. Mit diesem konnte er das Werk durchspielen und das Werk bereits Mitte Oktober 1918 im Rahmen eines Privatkonzertes aufführen. Unter ästhetischen Gesichtspunkten gehört die Violinsonate zu Elgars nostalgischen Werken, da er aufgrund des plötzlichen Todes der Widmungsträgerin am Ende des Finalsatzes die dolcissimo-Melodie aus dem Mittelteil des zweiten Satzes nachträglich einfügte.
Der kanadische Geiger James Ehnes hat nun zusammen mit dem amerikanischen Pianisten Andrew Armstrong ein Album mit Violinsonaten von Elgar, Debussy und Respighi eingespielt, ergänzt durch eine Berceuse aus einer Reihe kleinerer Stücke für Violine und Klavier op. 76 von Sibelius als Zugabe. Der 1976 geborene Ehnes begann seine Karriere als Konzertviolinist bereits mit 13 Jahren und schloss seine musikalische Ausbildung 1997 an der Juilliard School ab. Bereits 2005 verlieh ihm die kanadische Brandson University die Ehrendoktorwürde, und zwei Jahre später wurde er als jüngstes je gewähltes Mitglied in die Royal Society of Canada aufgenommen. Ehnes spielt eine Stradivari und hat bereits eine stattliche Anzahl an CDs mit zumeist romantischer Musik aufgenommen, darunter auch 2006 Elgars Violinkonzert zusammen mit dem Philharmonia Orchestra und Andrew Davis als Dirigenten. Nun also hat sich Ehnes der Violinsonate Elgars zugewandt, die er zusammen mit den nahezu zeitgleich entstandenen Violinsonaten Debussys und Respighis in einen interessanten Kontext gestellt hat. Insbesondere der Vergleich mit Debussy rührt an: wenn auch im Ton frohgemuter als Elgars Werk, liegt über ihr doch der Hauch des Todes. Ähnlich Elgar litt Debussys Schaffenskraft unter den Metzeleien des Ersten Weltkriegs. Zudem wurde bei ihm 1915 ein schweres Krebsleiden festgestellt. Auch er suchte in diese Krisensituation Zuflucht in einer Ortsveränderung und mietete zusammen mit seiner Frau ein Haus an der Normandieküste, wo er als letztes Werk die Violinsonate vollendete und auch noch (wie Elgar als Klavierbegleiter) 1917 selbst aufführte, um wenige Monate später zu sterben. James Ehnes wurde einmal als „Jascha Heifetz unserer Tage“ bezeichnet. Wie also geht der so Gelobte Elgars Violinsonate an?
Entschieden weniger dramatisch bzw. elektrisierend als eine solche Charakterisierung erwarten lässt. Ehnes und sein Begleiter warten verglichen mit den Einspielungen von Lydia Mordkovitch oder gar Nigel Kennedy mit einer geradezu verhaltenen Interpretation auf. Dies wird schon daran erkennbar, dass die beiden mit über 26 Minuten für ihre Einspielung teilweise deutlich mehr Zeit benötigen als Kennedy/Pettinger (aus dem Jahr 1984; CHANDOS 8380) und Mordkovitch/Milford (von 1988; CHANDOS 9624). Am deutlichsten zeigt sich dies im ersten Satz, für den die beiden eine halbe Minute länger brauchen als die zum Vergleich genannten Aufnahmen. Aus der längeren Spieldauer resultiert jedoch gerade auch im ersten Satz nicht größere Ausdrucksstärke und Differenzierung. Vielmehr führt dieser zurückhaltende, quasi mezzoforte-Ansatz dazu, dass schon das ohne Anlauf einsetzende dramatische Kopfthema des ersten Satzes an Wirkung verliert. Auf größere rubati und accelerandi, wie sie Kennedy und Mordkovitch mit großem Geschick einsetzen (vgl. zum einen Takt 3 nach Ziffer 4, zum anderen Takt 3 vor Ziffer 7), wird nahezu vollständig verzichtet. Resultat hieraus ist eine zwar klangschöne, aber eben vergleichsweise wenig spannende Interpretation des ersten Satzes. Wo Mordkovitch mit Brillanz und Kennedy mit unüberbotener Intensität aufhorchen lassen, kann man Ehnes allenfalls gepflegte Klangschönheit attestieren; aber eben in Dauer-mezzoforte.
In der Interpretation des faszinierenden zweiten Satz der Sonate, einer Romanze mit einem geheimnisvoll bruchstückhaften, gleichzeitig dunkel kolorierten Einleitungs- und Schlussteil setzt sich diese Tendenz zur Gleichförmigkeit leider fort. Gerade diese Passagen des zweiten Satzes erfordern in ihrem „spanischen Tonfall“ ein besonderes Maß an Flexibilität im Hinblick auf Tempo und Lautstärke. Was besonders Mordkovitch hier in bewundernswerter Weise gelingt, wird in der vergleichsweise unbeweglichen Darstellung von Ehnes nur ansatzweise realisiert. Aber auch der Übergang zum melodisch sehnsuchtsvollen Mittelteil (Ziffer 28) wird zu glatt interpretieret. In der Folge (ab Takt 6 vor Ziffer 32) verschenkt Ehnes beinahe den Höhepunkt des Satzes, da er mit seiner statischen Interpretation nur mäßig Spannung aufzubauen vermag. Am besten gelingt Ehnes der dritte Satz, der mit seinem ruhig fließenden Kopfthema an das sogenannte Flussthema des Schlusssatzes der zweiten Sinfonie erinnert und zu dessen Beginn Ehnes mit seinem schönen Ton und im Zusammenspiel mit Armstrong durch seine transparente Darstellung zu überzeugen vermag. Doch auch hier kann man ihm schon im Anfangsteil des Satzes seinen spannungsarmen Umgang mit den von Elgar notierten accelerandi vorhalten. Und so überrascht es auch nicht, dass Ehnes ungeachtet seiner Souveränität die Expressivität Kennedys beim emotionalen Höhepunkt der Sonate, der Reminiszenz an den melodischen Mittelteil des langsamen Satzes im Schlussteil des Finalsatzes nicht erreicht.
Bei aller Kritik: Wer einen weniger manieristischen Interpretationsansatz bevorzugt und Elgars Violinsonate in einer eher klassizistisch orientierten, ebenmäßig klangschönen Einspielung und im aufschlussreichen Kontext mit interessanten Werken seiner Zeitgenossen hören möchte, dem kann diese Einspielung gleichwohl empfohlen werden.
(c) Markus Beyersdörfer
Symphonie Nr. 1 As-Dur, op. 63, „In the South (Alassio)“, op. 50
Sir Antonio Pappano, Orchestra dell'Acca-demia Nazionale di Santa Cecilia
ICA 5138
Wenn im Begleittext zu einer CD-Produktion erklärt wird, was an derselben ganz besonders großartig sein soll, dann darf man durchaus einmal hellhörig werden. Warum ist dergleichen vonnöten? Handelt es sich bei einer solcher Apostrophe, wie wir sie hier finden, um dem Starkult verpflichtete Worte oder muss man befürchten, eine Interpretation in der Hand zu haben, die der warmen Worte bedarf, weil sie eine unverständliche Lesart des eingespielten Opus vorstellt? Im Falle der bei ICA Classics erschienenen Neuaufnahme von Elgars erster Symphonie mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Sir Antonio Pappano ist man geneigt, Anthony Burtons einführende Worte der ersten Kategorie zuzuordnen, denn um eine wirklich unverständliche Interpretation handelt es sich hier nicht. Nur um eine einigermaßen orientierungslose.
Bereits die sehr auf Espressivo getrimmte Vorstellung des Motto-Themas überzeugt nicht so recht. Pappano nimmt diesen Beginn sehr legato, glättet die von Elgar gesetzten Akzente und hat dazu noch einen starken Hang, eine zu gute Hand voll Pomade in diesen Beginn zu streichen. Festlich, voller Sentiment und „Nobilmente“ - so soll das wohl klingen. Problem: Tut es aber nicht, und zwar weil hier nicht mehr mit dem Pinsel, sondern förmlich mit dem Quast gemalt wird. Das setzt sich in der Exposition fort, die sehr gewichtig und rundum viel zu schwerfällig daherkommt. Der packende, erregte, durchaus auch einmal scharfe Ton des Beginns, die Prägnanz des ersten Themas, die Elgar durch zahlreiche Hinweise zur Artikulation
an sich sicherstellt – beides geht bei Pappano mit Mann und Maus unter. Wenig gelungen gestaltet sich auch die Hinleitung zur Durchführung ab etwa Ziffer 14. Aggressivität, Schub, Brillanz – man sucht sie hier vergebens. Ich will mich nun nicht an jeder missglückten Stelle festbeißen. Dennoch komme ich nicht daran vorbei darauf hinweisen, dass auch die schnell fluktuierenden atmosphärischen Veränderungen, mit denen die Durchführung durchsetzt ist, Pappano nicht so recht gelingen wollen. Elgar selbst war ein Meister der Gestaltung dieser schlagartigen und doch immer schlüssigen Stimmungsschwankungen, beispielsweise mittels des von ihm meisterlich beherrschten Rubato (man zum Vergleich einmal seine 1930er Aufnahme hinzu). Pappano bewundert – so klärt uns der Booklet-Text zur Aufnahme auf – diese Kunst des Komponisten zwar, zeigt aber in dieser Aufnahme nicht, dass er diese auch selbst beherrscht. Tatsächlich wirkt da dergleichen immer wieder willkürlich, plötzlich, ungelenk. Helles wechselt sich mit Dunklem ab, Lautes mit Leisem, Langsames mit Schnellen und stets fragt man sich: Warum eigentlich? Was soll das? Tatsächlich gelingt es Pappano hier auf keine Weise, die Dinge hier in Beziehung zueinander zu setzen. Schließlich lässt der Dirigent den Schluss des Satzes nicht langsam, sondern wie kurz vor dem vollkommenen Stillstand spielen. Was soll damit gezeigt werden? Dass man Elgar durchaus ausgesprochen langsam spielen kann? Dass hat schon Giuseppe Sinopoli auf – für manch einen Hörer – provokante Art gezeigt, der Unterschied ist nur, dass hinter dem, was Sinopoli machte, ein erkennbares Konzept stand, Pappano hat dergleichen nicht vorzuweisen.
Weniger Schwächen zeigen sich in der Gestaltung des sich anschließenden Allegros. Trotz der Schwere des Orchesterklanges zeigt sich hier doch zunächst deutlicher mehr Biss. Sicher, der „Mahler’sche Marsch“ dürfte einen Tuck greller klingen, die Sechzehntelketten in den Streichern (um Ziffer 64 herum) könnten etwas mehr Zug haben; ja, das Trio könnte zauberhafter klingen, mehr nach Sommernachtstraum, geheimnisvoller, den Dingen, die man – in Elgars Worten – „unten am Fluss hören“ kann. Insgesamt ist das jedoch eine gelungene Wiedergabe des Satzes.
Der dritte Satz, das herrliche Adagio, beginnt vielversprechend. So arbeiten Pappano und das Orchester dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia den Aufstieg zum ersten großen, satten und goldglänzenden Fortissimo (4 nach Ziffer 93 „molto espressivo“) ganz wunderbar heraus. So darf das klingen. In der Fortsetzung fehlt es dann aber immer wieder an Richtung. Man bekommt schnell den Eindruck, dass sowohl das Orchester als auch der Dirigent nach einer Linie für diesen wunderbaren Satz suchen, die aber letztlich leider nicht so recht gefunden wird. Während dieser Suche geht Pappano der Sinn für die Arbeit an den zahlreichen Details des Satzes konsequent ab. Da fehlt die Leichtigkeit in den fallenden Motiven in den Holzbläsern (um Ziffer 95 herum), der typische Mischklang aus Streichern und Blech stellt sich nicht ein, die Harfe verschwindet klanglich zu oft. Und so wird das Versprechen, dass der Beginn des Satzes gab, nicht gehalten.
Im Finale schließlich kann Pappano das Ruder auch nicht mehr herumreißen. Der düster-zwielichtige Lento-Beginn in d-Moll wirkt wenig bedrohlich, dafür umso zäher. Der Konflikt, der dann im anschließenden Allegro ausgetragen werden sollte, wirkt wenig agil, und zwar nicht so sehr wegen eines zu moderaten Tempos, sondern vielmehr aufgrund der durchweg zu breiten Artikulation. Es fehlt dann auch noch ein wenig an Glanz, wenn das Motto-Thema schließlich zurückkehrt, erst in der Reprise (ab etwa Ziffer 143) lässt Pappano die Partitur einmal so richtig aufblühen. Dass die Coda dann so dermaßen rasant genommen wird (ein jeder überlege für sich, wie er an dieser Stelle Elgars Hinweis „Grandioso – poco largamente“ verstehen würde), dass der Zuhörer förmlich aus dem Werk geschleudert wird, scheint den Schlusspunkt unter eine Interpretation zu setzen, die insgesamt nur wenig ausgereift erscheint.
Blendet man nun die Wiedergabe der ersten Symphonie einmal aus und blickt nur auf die Zugabe der CD, dann wird man unmittelbar versöhnt. Denn im Fall der Darstellung der herrlichen Ouvertüre „In the South (Alassio)“ macht Pappano alles richtig. Tatsächlich gelingt ihm und dem Orchester hier eine in jeder Hinsicht herausragende Interpretation, die es fast schafft, des Rezensenten favorisierte Einspielung (Riccardo Muti mit dem Orchestra Filarmonica Della Scala) von ihrem lange okkupierten Platz zu verdrängen. Pappano und die Musikerinnen und Musiker des Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia stürzen sich mit herrlichem Ungestüm und einem kräftigen Maß an Feier in das Werk. Durchweg saftig und in jedem Moment begeisternd wird so die erste Themengruppe vorgestellt. Auch der atmosphärische Wechsel und die Ausgestaltung der der zweiten, im Tonfall lyrisch-pastoralen „Moglio“-Passage, gelingt vorbildlich. Gleiches gilt für die Gestaltung des sogenannten „römischen Abschnitts“ (ab Grandioso, Ziffer 20), bei dem es Elgar darum ging, „die unerbittlich und tyrannisch vorwärtsdrängende Kraft des Altertums zu zeichnen und ein Tonbild der Kämpfe und Kriege (‚die Trommeln und das Getrampel‘ [Sir Thomas Browne]) späterer Zeiten zu schaffen“. Pappano packt diese Passage machtvoll, mit viel Druck und eben jener starken Bewegung nach vorn an und verleiht ihr dadurch eine beeindruckende Plastizität. Der diesem Abschnitt gegenübergestellte „Canto popolare“-Episode, in dem die Solobratsche – gemahnend an Berlioz‘ „Harold aus Italien“ – vor einem ätherischen Hintergrund (Harfe, Streicher, Holz, Glockenspiel) eine wundersam weiche Melodie singt, gelingt vielleicht nicht ganz so entrückt wie bei Muti (oder Elder oder Sinopoli), doch dies tut dem insgesamt hervorragenden Eindruck keinen Abbruch.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
Enigma-Variations op. 36, In the South op. 50, Carillon op. 75, Une voix dans le désert op. 77, Le drapeau belge op. 79, Pleading op 48
Martyn Brabbins, Florence Daguerre de Hureaux (Sprecherin), Kate Royal (Sopran), Yann Ghiro, BBC Scottish Symphony Orchestra
Hyperion CDA68101
Einen etwas durchwachsenen Mix von Kompositionen aus der Feder von Edward Elgars präsentieren Martyn Brabbins und das BBC Scottish Symphony Orchestra aus Glasgow auf ihrer kürzlich bei Hyperion erschienenen CD. Die „Enigma Variationen“ drängeln sich da neben der Konzertouvertüre „Ind the South“, den kleinen Kriegskompositionen Elgars, namentlich „Carillon“, „Un voix dans le désert“ und „Le drapeau belege“ sowie der reinen Orchesterfassung des als Lied bekannt bewordenen Stückes „Pleading“. Wer nun meint, in dieser Zusammenstellung einen tieferen Sinn erfassen zu können, dem sei an dieser Stelle gratuliert. Der Rezensent jedenfalls erkennt ihn nicht. Es handelt sich weder um eine knappe Werkschau noch um die Kompilation besonders gelungener Werke. Tatsächlich ist es eher das Gegenteil. Eine Zusammenstellung von enorm kunstvollen Kompositionen (Variationen, In the South) mit nicht sonderlich überzeugenden Gelegenheitskompositionen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Es ist nicht völlig abwegig, in einer Zeit, das sich der „Great War“ zum 100. Male jährt, hier das Geschmäckle einer nicht eben gelungenen Marketingidee wahrzunehmen. Wären die kleinen Kriegswerke Elgars nicht gerade kürzlich von Ben Palmer und John Wilson bei SOMM Records eingespielt worden wären, dann könnte sich der Elgar-Aficionado sogar darüber freuen, dass hier nach Barry Colletts länger schon nicht mehr erhältlichen Aufnahme der „War Music“ endlich erneut aufgenommen worden wären. An dem ist es jedoch nicht. Dadurch aber, dass die Werke kürzlich frisch eingespielt worden sind, wird im direkten Vergleich deutlich, wie wenig inspiriert Brabbins, das schottische Orchester und die Sprecherin Florence Daguerre de Hureaux diese von sich aus schon nicht eben funkelnden Kompositionen musizieren (schön hingegen: Kate Royal in „Une voix“). Dies unterstreicht noch zusätzlich die Historizität dieser Werke, die übrigens – und dies trifft ganz besonders auf das kleine Melodram aus dem Jahre 1914 „Carillon“ zu – die rauschenden späten Erfolge Elgars darstellten.
Von den „Enigma Variationen“ gibt es mittlerweile eine kaum noch überschaubare Anzahl an Einspielungen, darunter so hervorragende wie diejenigen Beechams, Stokowskis, Bernsteins oder Sinopolis, darunter auch viele gute und eine Reihe von eher mittelmäßigen. Im Falle einer Neueinspielung eines solchen Stückes muss sich im Klaren darüber sein – und daran geht im Grunde kein Weg vorbei –, dass man sich an jenen messen lassen muss.
Brabbins‘ Aufnahme nun gehört in die Riege der ausgesprochen genauen Einspielungen, eine Einspielung, die versucht, dem, was in der Elgar’schen Partitur notiert ist, so gerecht wie möglich zu werden. Es ist (nicht nur, aber auch) bei Mitlesen durchaus beeindruckend zu sehen, wie detailliert Brabbins das Orchester die Hinweise Elgars zu Artikulation und Agogik umsetzen lässt, wie jeder Akzent sitzt, jedes Pianissimo possibile Berücksichtigung findet, wie schlüssig phrasiert wird. Doch bei aller Genauigkeit und Liebe zum Detail: Wer eine spannende Aufnahme, eine mit Herzblut, Spannung und Leidenschaft musizierte erwartet, der wird wahrscheinlich enttäuscht werden. Brabbins und seinen Musikern gelingt es kaum einmal, Kapital aus der Genauigkeit, mit der diese Aufnahme ganz offensichtlich vorbereitet wurde, zu schlagen. Sicher, „Nimrod“ kann man im Grunde kaum spielen, ohne dass sich beim Hörer jene Nostalgie einstellt, die für Elgar so typisch ist. Möchte man von dieser Variation jedoch auch ergriffen werden, so eignet sich Brabbins Wiedergabe nicht so recht. Hat man nun insbesondere aber Stokowskis durch und durch glutvolle, aber auch Gardiners glanzvolle, Barbirollis leidenschaftliche (die 56er-Aufnahme), Sargents heroische (die 45er) und Bernsteins umstrittene, subjektivistisch-überhöhende im Ohr, dann wird schnell deutlich, dass das emotionale Spektrum, das Brabbins diesem Stück entlocken kann (oder will), deutlich hinter dem zurückbleibt, was die beispielhaft genannten Interpretationen hier aufziehen können. Aber auch anderen Variationen fehlt der letzte – wie ich meine – entscheidende Schliff, der das gute Musikstück zu einem herausragenden macht. Wie schwerfällig streckenweise beispielsweise die V. Variation (R.P.A.), wie wenig Humor in der VI. (Ysobel; Fagott!), wie wenig Zauber in der X. (Dorabella), wie viel Kontrolle und wie wenig Ungestüm im Finale (E.D.U).
Man kommt schlussendlich nicht umhin zu konstatieren, dass diese Einspielung es nicht wirklich zu vermitteln vermag, warum gerade die Variationen das Zeug dazu hatten, im Jahre 1899 Elgars kometenhaften Aufstieg zu initiieren. Statt sich hierauf zu fokussieren, arbeiten Brabbins und das Orchester das Werk stattdessen mit Routine ab, mit einem noblem Ennui, mit der Gewissheit, eine – was die Wiedergabe des Notentextes angeht – durchaus exemplarische Aufnahme vorgelegt zu haben. Diese Selbstgewissheit führt aber ohne Umwege weg von der einer frischen Interpretation des – wenn ich es so sagen darf - ersten „Reißers“ hin zu einer musealen Interpretation, die am Ende – anders als Lesarten, die auf allen Ebenen ein größeres interpretatorisches Risiko eingehen – in kaum einem Moment wirklich zu fesseln, ja zu begeistern vermag.
Es ist die Konzertouvertüre „In the South (Alassio)“, das Brabbins und das BBC Scottish National Orchestra auch durchaus auch anders können. Sicher, die Aufnahme erreicht weder die klangliche noch die emotionale Intensität derjenigen von Muti, Sinopoli und Pappano. Aber sie ist dennoch gut anzuhören und wirkt vor allem nicht so verkopft, wie die hier vorgestellte Lesart der Variationen. Mit einem guten Schuss Verve geht es los. Brabbins entscheidet sich (leider) nicht für einen allzu überschwänglichen, sondern für einen (nur) lebhaften Beginn und folgt damit getreu Elgars Notation („Vivace“). Die Vorstellung der ersten Themengruppe geschieht mir viel Spielfreude, die Hirtenmusik der zweiten indes klingt doch etwas akademisch. Schön gestaltet kommt der „römische“ Abschnitt daher, den Brabbins und das Orchester ausgesprochen differenziert gestalten. Da ist, man kann es nicht leugnen, der ein oder andere „Ear-Opener“ dabei. Im Canto populare-Abschnitt fehlt es dann aber doch etwas an dem Willen zum Sensualistischen. Das ist sehr delikat, sehr zart, aber auch ohne das rechte Maß an Panache musiziert. Insgesamt eine ordentliche, aber nicht eben überdurchschnittliche Einspielung.
Am Ende hilft es dieser Produktion dann auch nicht mehr, dass sich die hier erstmalig eingespielte Orchesterversion des als „Pleading“ bekannten Liedes (herrlich gespielt von Yann Ghiro an der Klarinette) als kleine Preziose entpuppt.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
Cellokonzert e-Moll, op. 35 (+ Martinů: Cellokonzert Nr.1)
Sol Gabetta, Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle (Elgar), Krzysztof Urbanski (Martinu)
Sony Classical 88985350792
Erneut hat die argentinische Cellistin Sol Gabetta eine Aufnahme von Elgars Cellokonzert vorgelegt. War schon ihre Aufnahme des Konzertes unter der Leitung von Mario Venzago enorm erfolgreich, so scheint die Kritik auch Ihre Neueinspielung (live, April 2014) mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle höchst positiv zugeneigt zu sein. Der Rezensent möchte an dieser Stelle Widersprechen. Schon die Venzago-Aufnahme konnte mich nicht begeistern, noch weniger noch kann es nun allerdings die neue. Die Gründe liegen sowohl bei den Ausführenden, aber auch bei der enorm starken Konkurrenz, die in den letzten Monaten und Jahren durchaus hörenswertere Einspielungen vorgelegt hat, die aufgrund des bescheideneren Marketings allerdings nicht die Popularität derjenigen Gabettas erreicht haben.
Es ist natürlich nicht so, dass die Gabetta hier eine handwerklich schlechte Aufnahme vorgelegt hat. Aber: Das Bessere ist der Feind des Guten. Hört man diese Aufnahme beispielsweise im direkten Vergleich mit Isserlis/Järvi (Hyperion 2016), dann werden die Schwächen ihrer Interpretation (die Rattle, ohnedies kein herausragender Elgar-Dirigent, in seiner Herangehensweise schlicht übernimmt). Gabettas Vorstellung des Werkes ist geprägt von den üblichen Schlagworten, die das Werk begleiten: Trauer, Aufbegehren, Abgesang, Schwanengesang, et cetera. Es ist ja nun auch mitnichten so, dass diese Aspekte das Werk nicht durchziehen würden. Aber: Nichts von alledem darf überakzentuiert werden, sonst läuft die Darstellung Gefahr, eindimensional und kitschig zu werden. Zu beidem neigt nun diese Einspielung. Schon das Eingangsrezitativs wirkt nicht nur gewichtig, sondern zu gewichtig. Die den ersten fünf Takten innewohnende Verzweiflung wird weniger gelebt, denn vielmehr mit übergroßer Geste vorgeführt. Schwer lastend wird dann das Hauptthema in den Bratschen vorgestellt. Die tragische Leichtigkeit und Erdenferne dieses im wiegenden 9/8-Takt notierten Themas löst sich so in Wohlgefallen auf. Stattdessen scheint Gabetta den Königsweg zu diesem Satz in der einigermaßen fettigen Inszenierung einer „unendlichen Melodie“, einer gefühlsduseligen Nänie zu sehen. Rattle stützt das Ganze. Sicher, die Berliner klingen toll, aber letztlich doch deutlich zu saftig, zu schwer, zu wenig differenziert, zu sehr auf hochpolierten Klang aus. Man muss sich einmal anhören, wie Järvi das macht, wie kammermusikalisch licht die Partitur hier auf einmal klingt. Da leuchtet an allen Ende die nötige Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem Werk auf, ohne dass die Interpretation blutleer oder akademisch wirken würde. Es wird nur nicht mit der Wurst nach der Speckseite geworfen.
Man könnte nun weitermachen und sich in der Nennung von weiteren Beispielen ergehen, beispielsweise in dem Hinweis darauf, wie das zweite Thema des Satzes wieder ohne jegliche Leichtigkeit daherkommt, wie es so nicht als Gegenstück zum Hauptthema funktioniert. Man könnte darauf verweisen, wie uninteressant, wie einfallslos und wie wenig „sprechend“ Gabettas Artikulation des diesen Satz dominierenden 16tel-Motivs bleibt oder darauf, dass sie in ihrer Darstellung des herrlichen Adagios stellenweise etwas zu intensiv im Lyrizismus badet und dass das Finale ruhig feuriger sein könnte. Man kann es aber auch übertreiben.
Insgesamt bleibt zu sagen, dass es diese Aufnahme kaum schafft, in irgendeiner Hinsicht zu überzeugen. Der Hörer mag sich wohl an dem satten Klang erfreuen, nicht jedoch daran, einer substanziellen Deutung des letzten Werkes Elgars von Format begegnet zu sein.
Freuen kann man sich übrigens an der rundum gelungenen und spritzigen Interpretation von Martinůs Cellokonzert Nr. 1 H196, das unter der Leitung von Krzysztof Urbanski eine in jeder Hinsicht hochmusikalische Wiedergabe erfährt.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
The Dream of Gerontius, op. 38
Peter Pears, Janet Baker, John Shirley-Quirk, London Philharmonic Choir, London Philhar- monic Orchestra, Sir Adrian Boult
ICA Classics ICAD 5140 2 DVD
Es war schon ein gewaltiges Unterfangen, das das im Frühjahr des Jahres 1968 in England auf den Weg gebracht wurde. Sir Adrian Boult war von der BBC dafür gewonnen worden, gemeinsam mit dem London Philharmonic Orchestra, dem London Philharmonic Chorus und den Solisten Peter Pears, Janet Baker und John Shirley-Quirk Sir Edward Elgars Meisterwerk „The Dream of Gerontius“ für das Fernsehen aufzuzeichnen. Boult, den Elgar selbst vertrauensvoll als Sachverwalter seines Werkes angesehen hatte, konnte im Aufnahmejahr auf eine 64-jährige Bekanntschaft mit dem Werk zurückblicken und war somit der bestmögliche Interpret, den man sich wünschen konnte. Nachdem klar war, dass die Dreharbeiten nicht – wie ursprünglich geplant war – in der Kathedrale zu Worcester, sondern in Canterbury stattfinden würde, entstand dort am 29. März 1968 unter Verwendung von acht der neun in Großbritannien existierenden Farbfernsehkameras die erste klassische Musikproduktion in Farbe.
Es wundert vor diesem Hintergrund nur wenig, dass Produzent Brian Large darum die Schwerpunkte seines Filmes auf die Darstellung sowohl der Solisten als auch besonders auf die Darstellung der Schönheiten der Kathedrale von Canterbury legt. Sein spezielles Augenmerk liegt dabei auf den mittelalterlichen Buntglasfenstern, die er immer wieder im Detail als „Close-Up“ aber auch in der Totale zeigt. Was auf den heutigen Betrachter vielleicht
etwas obsessiv wirken mag, dürfte den Fernsehzuschauer von einst unmittelbar fasziniert haben. Hier hat auch die DVD-Bearbeitung, die die originalen BBC-Bänder restauriert hat, allerhand geleistet. Der Blick auf das große Westfenster, die Farben der Detailaufnahmen – das hat schon etwas. Daneben hat aber Large nicht nur die Schönheit der Fenster zeigen wollen, er hat sie auch symbolisch in Bezug zum Werk selbst gesetzt. So beginnt der Film unter den Klängen des Preludes mit der visuellen Beschäftigung große Westfenster der Kathedrale. Westen, das ist der Bereich des Menschen. Der Mensch „an sich“ wiederum ist Gerontius, der sterbende Jedermann, dessen Sterben und Gang zu Gott und zum Purgatorium im Werk dargestellt wird. Der Gang des Menschen von West nach Ost durch den Kirchenraum nun symbolisiert seinen Weg vom weltlichen hin zur Welt des Geistigen des Ewigen. Diesen Bogen schlägt auch Brian Large, denn am Ende des Werkes, kurz bevor der filmische Blick schließlich noch einmal die Ausführenden fokussiert, wandert der Blick der Kamera mit Gerontius in den Bereich des östlichen Hochchores und der Trinity Chapel und verweist so auf die jenseitige Welt, in der der Hörer Gerontius und den Engel schließlich zurücklässt. Insgesamt nutzt Large seine Bilder des Sakralraumes meist schlüssig zur Unterstreichung der im Oratorium dargestellten Szenen und Gemütszustände. Besonders eindrucksvoll stechen die auf Fenstern, Friesen und Kapitellen zu findenden Dämonenfratzen ins Auge, die Large unter Nutzung von Blur- und Verzerrungseffekten zum „Demon’s Chorus“ zeigt. Etwas psychedelisch hingegen wirken die Farbspiele, die eingesetzt werden, als sich Engel und Gerontius Gott nahen.
Die Aufführung des Werkes selbst kann man guten Gewissens exemplarisch nennen. Sir Adrian, der das Werk nur einmal kommerziell für die Schallplatte aufgenommen hat (1975) präsentiert hier eine dieser Aufnahme konzeptionell durchaus ähnliche Aufnahme. Präzise, ohne trocken zu sein, ausdruckstark; ohne sich emotional zu exhibitionieren, kontrolliert, ohne die Leidenschaft zu verlieren – so mag man dieses Dirigat wohl nennen.
Dazu hat man drei Solisten, die sich hier auf dem Höhepunkt ihrer Darstellungskraft befinden. Wie auch immer man zur Stimme von Peter Pears stehen mag: Seine Darstellung der Titelpartie ist meisterlich, nicht nur, weil der zum Aufnahmezeitpunkt 58 Jahre alte Sänger seine Stimme bestens unter Kontrolle hat und es nicht einen Moment gibt, der sich rein unter technischen Aspekten als Schwachstelle offenbaren würde. Es ist vielmehr die Tatsache, wie intensiv Pears mit und am Text arbeitet, wie er die enorme emotionale und psychologische Spannbreite dieser Partie durchmisst, ohne dabei einen Moment verkopft zu wirken. Pears durchlebt und durchleidet diese Partie, was auch immer wieder in den Close-Ups deutlich wird. Auch wenn es Momente gibt, in denen seine Mimik nur hart am Grimassieren vorbeischrammt (z.B. im Angesicht Gottes), so ist doch alles, was Pears hier präsentiert höchst überzeugend.
Dazu Janet Baker, deren Engel hier noch luzider, noch weicher, noch ätherischer daherkommt als in Barbirollis berühmter Aufnahme aus dem Jahre 1964. Wie glänzend die Phrasierung, die Artikulation, die Diktion und wie vollkommen erhaben die Herrschaft über ihr Stimme. Hat sie das „Softly and gently“ jemals ergreifender gesungen als hier?
Schließlich erweist sich auch John Shirley-Quirk als idealer und höchst intensiv gestaltender Interpret der beiden „kleinen“ Rollen des Priest und des Angel of the Agony.
Das London Philharmonic Orchestra und der London Philharmonic Choir musizieren in jedem Moment auf höchstem Niveau.
Kurzum: Hier haben wir ein Elgar-Dokument, das in keiner Sammlung fehlen sollte.
Ein weiterer Leckerbissen ist übrigens die beigefügte Dokumentation „A.C.B. – A Portrait of One of the Century’s Greatest Musicians – Sir Adrian Boult C.H. An der Hand von Vernon Hadley, der sensibel und mit viel persönlichem Hintergrundwissen durch diese 1989 erstmals ausgestrahlte Dokumentation führt, erfährt der interessierte Zuschauer eine Menge über Boult, und zwar nicht nur aufgrund der reichhaltigen Kommentare vieler berühmter Persönlichkeiten des britischen Musikgeschäftes (z.B. André Previn, Sir Colin Davis, Robert Simpson uva.), sondern auch immer wieder von Boult selbst, der sich hier beispielsweise intensiv über seine Vorstellungen zum Dirigieren, zur Orchesterbalance und vielem mehr äußert.
Veröffentlichungen dieser Art und Qualität dürfte es häufiger geben.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
Und was soll ich nach dem Hören dieser Neuaufnahme nun sagen? Ich bin überrascht, und zwar mehr als angenehm. Endlich höre ich von Barenboim einen Elgar, der mir (von einigen Kleinigkeiten abgesehen) rundum gefällt, einen Elgar, der Hand und Fuß hat, einen Elgar, der mich gespannt darauf macht, ob Barenboim in Zukunft vielleicht noch einmal die Enigma-Variationen, das Violinkonzert oder den „Gerontius“ vorlegen wird. Haben also viele der bisherigen Aufnahmen bei mir den Eindruck hinterlassen, als hätte ich das Liebespaar Elgar & Barenboim immer nur an schlechten Tagen treffen dürfen, so bin ich nun endlich bei einem der guten, der vielleicht einem der besten Tage dabei gewesen.
Der Einstieg in das Werk, das herrliche „ideale Thema“, nimmt Barenboim ruhig, aber dennoch fließend, stets Elgars Angaben zur Artikulation genau folgend. Die Wiederholung im Fortissimo, die besonders in Sir Colin Davis‘ Dresdner Aufnahme in satten Goldtönen zu glänzen scheint, erreicht bei Barenboim nicht ganz diese Intensität. Man erlebt eher ein dezent-gedämpfte Noblesse, kein poliertes, sondern mattiertes Gold, wenn man so will. Das aber ist meines Erachtens ein Charakteristikum dieser Aufnahme. Wird Elgar immer wieder unterstellt, mit der ersten Symphonie das Hohelied des britischen Empires singen zu wollen, so scheint mir Barenboim hier etwas ganz anderes zu hören, nämlich den deutlichen Klang des Verlustes, der Verebbens, des Verschwindens, der (auch) dieser Komposition – legt man seine wohlgeformten Vorurteile einmal ab – zu eigen ist. Auch dies ist ein Werk der, wie es Matthew Riley nennt, „nostalgic imagination“ Elgars, ein Werk, das (wenn überhaupt) eine Epoche besingt, die sich erkennbar und rasant auf ihr Ende zubewegte. Das wird in diesem, aber auch in den anderen Sätzen des Werkes immer wieder deutlich.
Barenboim steigt mit einem forschen Allegro in die Exposition ein, ab Ziffer 7 hört man dann auch das „Appassionato“, das Elgar vorschreibt. Der insgesamt kämpferische Gestus des Satzes liegt Barenboim. Zur Vorstellung des zweiten Themas geht er nicht, wie manch ein anderer Interpret, im Tempo zurück. Dennoch klingt es dank des durchweg herrlichen Spiels der Staatskapelle Berlin ausgesprochen delikat. Richtiggehend wild gelingt das „Con fuoco“ um Ziffer 16 herum (stürzende Streicherfigur). Überhaupt gibt es wenig, was ich nicht überzeugend finde. Dazu gehört beispielsweise die starke Zurücknahme des Tempos bei Ziffer 17 ff. (von Elgar nicht notiert), der Umstand, dass der Beginn der Durchführung für meinen Geschmack deutlich geheimnisvoller, deutlich zwielichtiger klingen oder dass die Harfe vor Ziffer 30 (Triolenfigur) etwas prägnanter zu hören sein könnte. Aber dafür gelingt jenes Moment des Versiegens der Musik vor Einsatz der Coda, wo es wirkt, als hätte sich der Komponist so verausgabt, dass er nicht mehr weiter konnte, großartig. Entsprechend logisch führt Barenboim den ersten Satz zu seinem Ende. Schon die Takte vor der Coda haben etwas Schweres, Ermattetes. Die Coda selbst dann nimmt Barenboim dann sehr breit und führt den Satz in ein fast Mahler’sches Nichts.
Das Scherzo lässt Barenboim unter Hochdruck musizieren. Fast an der Hörbarkeitsgrenze rasen die Streicher in den Satz hinein und zaubern eine Stimmung, die mich von Ferne an das Scherzo aus Mendelssohns „Sommernachtstraum“ erinnert – nur unheimlicher. Hier ist eine Kohorte Will-o'-wisps unterwegs. Das Marschmotiv fügt sich in den eher leichten Ansatz ein, könnte für mich aber doch etwas erdverbundener klingen. Die berühmte Stelle, die Elgar so gespielt haben wollte „wie etwas, das man unten am Fluss hört“ (= Trio I), wirkt auf mich etwas zu heiter. Auch hätte mich eine minimale Drosselung des Tempos hier nicht gestört. Aber Barenboim setzt auf Brillanz und Rasanz und das ist ja durchaus vertretbar. Hervorragend gelingt ihm dann die Bremsung der wilden Jagd in den letzten Takten des Satzes. Sofort stellt sich dann wieder dieses Moment der Erschöpfung, des Ausgebrannt-seins ein, das dann atmosphärisch wirklich gediegen mit in den langsamen Satz überführt wird.
Zwischen Barenboims Berliner und Londoner Lesart des berühmten Adagios liegen geradezu Welten. Während die Londoner Aufnahme den Satz als billige Schmonzette, als Schmachtfetzen inszeniert, so haben wir es hier mit einer zutiefst ernsthaften, seriösen und insgesamt profunden Interpretation zu tun. Ich vergleiche den Satz (und das Larghetto aus der zweiten Symphonie) ja gerne mit einem Gemälde des Tenebrismus. Wie dort der Blick des Betrachters über die dunkle Fläche wandert und dabei plötzlich die kontrastierend leuchtenden Farben in ihrer ganzen Schönheit wahrnimmt, so wandert der Hörer durch Elgars langsame Sätze, die im Prinzip dunkel sind, aber dann plötzlich in schönsten Klangfarben aufleuchten. Chiaroscuro at its best, sozusagen. In Barenboims Interpretation nun überwiegen die dunklen Farben ganz deutlich. Vom ersten Ton an melancholisch und von einer gewissen Schwere gezeichnet, entwickelt sich ein Klanggeschehen, das von Verlust, von Abschied (man höre nur die um Ziffer 98 durch Soloklarinette, -violine und –fagott wandernde Figur!), aber auch von großer Ruhe (speziell in den letzten sieben Takten) erzählt. Die warmen Momente, in denen sich der Hörer sonnen kann – sie sind so warm hier nicht. Die Sonne, die hier scheint, ist winterlich-blass.
Das Finale beginnt Barenboim angemessen düster und geht dann in einer sehr risolutes Allegro über, das letztendlich ab und an vielleicht etwas zu einförmig, etwas zu eilig wirkt. Sehr kraftvoll gelingt das Unisono vor Ziffer 120, bevor es in eine durchweg packende Durchführung geht, in der Barenboim eigentlich alles richtig macht. Da gefällt mir vieles: die prägnant stürzende Figur in Celli und Bratschen (Ziffer 127 ff.), die von plötzlicher Ruhe geprägten Takte vor dem Beginn der Coda (ab Ziffer 130), die schlüssige Vorbereitung des „Ad astra“-Schlusses (ab Ziffer 137). Doch dieser Schluss – und das ist vielleicht auf den ersten Blick das einzige wirkliche Manko dieser Aufnahme – er scheint nicht so recht zu gelingen. Die Coda nimmt Barenboim in hohem Tempo, das notierte Largamente wird ignoriert. Die Apotheose wirkt darum wenig apotheotisch, sondern eher eilig, so als müsse man das schnell hinter sich bringen, weil Glanz und Gloria dieses Schlusses peinlich berühren. Doch wer sollte peinlich berührt sein? Das Publikum bekam, was es sich wünschte: einen grandiosen, einen anscheinend affirmativen Schluss am Ende einer Symphonie, wie sie Großbritannien bis dahin noch nicht von einem Briten gehört hatte. Edwardian splendour, Selbstversicherung inbegriffen. Die Peinlichkeit läge also nicht beim Publikum. Vielleicht ist es aber ein peinlicher Schluss für den Komponisten, der eine Symphonie komponiert hat, die drei umfangreiche Sätze hindurch nichts Selbstversicherndes hat und die dann in einem großen affirmativen Satz endet. Peinlich mag es sein, weil ihm bewusst war, dass eine Apotheose des Edwardianischen Zeitalters im Jahre 1908 eigentlich gar nicht mehr vertretbar war, er aber vom Wunsch auf Erfolg getrieben, mit der Wurst nach der Speckseite warf. Hypothesen, Hypothesen. Daniel Barenboims Lesart scheint aber diese Frage aufzuwerfen. Und dergleichen wiederum scheint mir Kennzeichen einer guten Aufnahme zu sein.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
Edward Elgar: Complete Original Organ Music
Daniel Justin, Orgel Leeds Cathedral
Brilliant Classics 94959 (2015)
Der Titel dieser CD ist ein leichter Euphemismus angesichts der Tatsache, dass es sich bei Elgars gesamtem Œuvre für Orgel nur um drei Werke mit einer Gesamtspieldauer von etwas mehr als 45 Minuten handelt: neben der Orgelsonate (1895) die Vesper Voluntaries sowie die Miniatur Cantique. Dass Elgar, der mit der Orgel als Instrument aufgewachsen ist, in späteren Jahren keine Orgelwerke mehr geschrieben hat, ist außerordentlich bedauerlich, denn gerade die Orgelsonate zeigt, dass er zu diesem Genre durchaus etwas zu sagen hatte: Zur Erfüllung eines Auftrags in kürzester Zeit geschrieben (und dadurch – wie später auch Gerontius – unter suboptimalen Bedingungen uraufgeführt), zeigt sie einen völlig individuellen Zugang zur Gattung der romantischen Orgelsonate und nimmt in Elgars Gesamtschaffen nichts weniger als den Rang einer „Sinfonie Nr. 0“ ein. Für einige Jahrzehnte in der Wahrnehmung etwas an den Rand gedrängt, gehört sie mittlerweile zurecht zum Standardrepertoire und wird zunehmend auch außerhalb Englands gespielt.
Dass Organisten ihre Elgar-Programme durch Transkriptionen abrunden, ist durchaus sinnfällig, denn die Kultur der Orgeltranskription war zu Elgars Lebzeiten in England sehr populär: Wir wissen, dass der junge Elgar an St. George’s in Worcester selbst Transkriptionen gespielt hat (darunter angeblich einmal bei einer Taufe den „Marsch zum Schafott“ aus Berlioz‘ Symphonie fantastique!), und die Orgeltranskriptionen seiner eigenen Werke sind mit seiner ausdrücklichen Zustimmung vorgenommen und oft sogar von ihm selbst angeregt worden.
Für die vorliegende Neueinspielung hat der junge britische Organist Daniel Justin (* 1990) Elgars „echte“ Orgelwerke deshalb sehr sinnfällig durch die Einbeziehung dreier Transkriptionen zu einem schönen Programm abgerundet, das man sich durchaus als geschlossenes Recital anhören kann, wobei der Imperial March und der erste Pomp & Circumstance-Marsch als Rahmen fungieren. Die Auswahl ist unter dem Stichwort „Complete Original Organ Music“ dennoch etwas irreführend, denn es fehlen mit Loughborough Memorial Chime und der sogenannten 2. Orgelsonate (nach der Severn Suite) zwei Transkriptionen, die von Elgar selbst stammen bzw. von ihm redigiert wurden.
Leider ist mit dem Hinweis auf die gelungene Programmzusammenstellung das Positive über diese Aufnahme bereits gesagt, denn sie lässt mich ansonsten einigermaßen ratlos zurück. Dies beginnt mit einer Äußerlichkeit: Das Booklet enthält keinerlei Angaben zum verwendeten Instrument. Das Argument, es handle sich um eine Veröffentlichung im Niedrigpreissektor, muss als verloren gelten, denn andere Orgel-CDs desselben Labels enthalten in vorbildlicher Weise historische und technische Daten und sogar Farbfotos der jeweils verwendeten Instrumente. Ich persönlich halte dies bei einer Orgel-CD für eine conditio sine qua non, zumal diese Informationen in der Regel auf einer einzigen Seite unterzubringen sind.
Eben die Wahl des Instruments ist allerdings bereits das zweite Problem der Aufnahme: Ich habe die CD zunächst ohne Kenntnis von Geschichte und Disposition der Orgel angehört und spontan auf ein klanglich extrem monotones Instrument mit ca. 40 Registern getippt, mit einem neobarocken Rückpositiv und einem Schwellwerk, das zu weit in die Tiefe gerückt ist und deshalb mit dem Rest der Orgel klanglich nicht verschmilzt. Das dynamische Spektrum bewegt sich irgendwo zwischen Mezzoforte und Fortissimo; ein echtes Piano oder gar Pianissimo ist auf der gesamten CD nicht ein einziges Mal zu hören. Ich war erstaunt, bei meinen Recherchen im Internet zu erfahren, dass es sich um eine erst 2010 von der Bonner Firma Klais reorganisierte Orgel aus dem Jahr 1904 handelt, die über 78 Register in sieben über den Raum verteilten Divisionen verfügt. Hiervon hört man schlichtweg nichts. Ob das Instrument in situ besser klingt und der rundheraus deplorable klangliche Eindruck auf dieser CD auf aufnahmetechnische Mängel und/oder einen unglücklichen Umgang des Interpreten mit dem Registerfundus zurückzuführen ist, vermag ich nicht zu beurteilen, aber bereits unter einem klanglichen Aspekt betrachtet ist die CD damit nicht konkurrenzfähig mit anderen guten Elgar-Aufnahmen.
Das größte Problem ist jedoch das Spiel von Daniel Justin, das weder musikalisch noch technisch überzeugen kann. Auf der musikalischen Seite liegen die Defizite in einem völligen Fehlen eines wie auch immer gearteten interpretatorischen Konzepts. Insbesondere Cantique und die Vesper Voluntaries klingen – ich kann es leider nicht freundlicher ausdrücken – wie vom Blatt gespielt: Elgars originale Angaben zu Artikulation, Phrasierung, Tempo und Agogik scheinen für Justin inexistent zu sein: Da wird aus Legato Staccato und umgekehrt (Cantique und Nr. I der Voluntaries), aber inkonsequent und offenbar völlig willkürlich. Die von Elgar sorgsam abgestuften Tempoangaben werden fast komplett ignoriert, so z. B. in Nr. V, VI und VII der Voluntaries, in denen alle „Ritardando“- und „Più lento“-Angaben unter den Tisch gefallen sind.
Ähnliches gilt auch für die beiden Märsche, die beim ersten Anhören noch einigermaßen überzeugend wirken, im Vergleich zu anderen Aufnahmen jedoch nicht bestehen können: So hat Ben van Oosten in seinen jüngst erschienenen Aufnahmen beider Märsche (MDG) eindrucksvoll bewiesen, welches Potential in dieser Musik steckt, wenn man jede dynamische Nuance, jeden Akzent und jedes Phrasierungsdetail liebevoll herausarbeitet. Verglichen hiermit bietet Justin bestenfalls eine Skizze.
Die Orgelsonate gibt nur insoweit ein besseres Bild ab, als die Rahmensätze spannungstechnisch gut gelungen sind, aber in den Mittelsätzen ist Justins Spiel hölzern und unpoetisch, und die für Elgars Musik so essentielle agogische Gestaltung fehlt selbst an Stellen, an denen Elgar sie ausdrücklich vorgeschrieben hat. Eine beckmesserische Randbemerkung kann man sich zudem nicht verkneifen: Elgar hat nicht nur explizit vorgeschrieben, den dritten Satz ohne Pause auf den zweiten folgen zu lassen, sondern er hat sich über dieser Frage sogar mit seinem Verleger Novello überworfen: Dort wollte man die vier Sätze separat drucken, weshalb Elgar, um die Einheit der Sonate besorgt, das Werk bei Breitkopf verlegte. Bei Justin dauert es nach dem zweiten Satz lähmende zehn Sekunden, bis der dritte Satz anschließt, dessen modulierende Eingangstakte damit überflüssig sind – Justin hätte sie genauso gut weglassen und in Takt 3 beginnen können.
Ich bin der Letzte, der einer oberflächlichen Perfektion das Wort redet, und eine musikalisch überzeugende Interpretation mit kleineren Pannen ist mir allemal lieber als ein fehlerfreies Hochglanzprodukt. Dennoch: Hier handelt es sich um eine unter Studiobedingungen entstandene Aufnahme, und da darf es aus meiner Sicht dann doch etwas mehr Perfektion sein, denn was dem Hörer an spieltechnischen Fehlern zugemutet wird, ist deutlich zu viel und hätte so nicht stehenbleiben dürfen. Dies betrifft bereits die Vesper Voluntaries, deren technische Ausführung man stellenweise nur mit dem nicht besonders höflichen Adjektiv „schlampig“ bezeichnen kann (insbesondere Nr. I, VI und VII). Der Patzer in der Coda des Pomp & Circumstance-Marschs (c statt cis in D-Dur!) hätte ebenso dringend ausgebessert gehört wie einige geradezu groteske Fehler in der Sonate: Im Kopfsatz spielt Justin in T. 167 reflexionslos einen Druckfehler der Elgar Complete Edition, im 2. Satz ist der Bass des Akkords vor der Reprise eigentlich cis statt c (die bei Justin entstandene harmonische Wendung hätte Elgar 1895 sicherlich so nicht durchgehen lassen), und im 3. Satz in T. 58 im Diskant gis statt g zu spielen, zeugt schon von einer einigermaßen großen Insensibilität, denn aus einem kleinen Nonenakkord macht man nicht so ohne weiteres einen großen.
Harsche Worte, in der Tat. Aber das Problem in der Bewertung dieser Aufnahme ist die große Konkurrenz insbesondere im Fall der Sonate: Unter den mehr als 40 (!) Aufnahmen dieses Werkes sind einige Meilensteine, die in jede gute Elgar-Diskographie gehören und an denen sich jede Neuaufnahme messen lassen muss: die älteren Aufnahmen aus der LP-Ära von Herbert Sumsion (EMI) und Simon Preston (Argo), die mitreißend musikantischen Aufnahmen von Nicolas Kynaston (Mitra), John Scott (Priory) und Roger Fisher (Motette), sowie dann vor allem die beiden Referenzaufnahmen aus jüngerer Zeit von Thomas Trotter (Regent, 2006) und Ben van Oosten (MDG, 2013). Nicht minder bemerkenswert sind die beiden DVD-Aufnahmen von James Lancelot und Thomas Trotter, und wem das alles noch nicht reicht, dem sei als Geheimtipp die weitgehend unbeachtet gebliebenen Aufnahme von Jean-Luc Étienne empfohlen (Hortus, 2012), die als eine der wenigen Aufnahmen von einem nicht-englischen Künstler an einem nicht-englischen Instrument entstand und nicht trotz, sondern gerade wegen einiger Idiosynkrasien insbesondere beim wiederholten Anhören überzeugen kann. Angesichts eines solchen Embarras de richesses ist für eine musikalisch äußerst durchschnittliche, technisch nicht gut gespielte Version an einem uninteressanten Instrument wenig Platz – sie ist im Dialog mit der Ewigkeit recht eigentlich überflüssig.
(c) Florian Csizmadia 2015
In seiner Jugend hatte Elgar einige Zeit lang den Posten des Organisten der katholischen Kirche St George’s in Worcester inne. Während dieser Zeit komponierte er kaum etwas Substanzielles für das dortige Instrument, erst 1895 schreib er seine große Orgelsonate op. 28 für die Orgel der Kathedrale zu Worcester. Danach hatte er mit dem Instrument im Prinzip abgeschlossen. Allerdings war er mit einigen bedeutenden Organisten im Westen Englands eng befreundet, die, da fast keine genuinen Werke Elgars für die Orgel vorlagen, seine Orchesterwerke für die „Königin der Instrumente“ arrangierten. Diese Tradition hält bis heute an.
Auf der vorliegenden CD-Produktion „Elgar from Salisbury“ präsentiert der „Assistant Director of Music at Salisbury Cathedral“, John Challenger, neun zum Teil recht umfangreiche Elgar-Arrangements, die teils aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, aber auch aus der unmittelbaren Gegenwart stammen. Challengers Instrument ist in Großbritannien legendär. Er spielt auf der großen „Father-Willis-Orgel“, die der Orgelbauer Henry Willis (der u.a. die Orgel im Crystal Palace und in der Royal Albert Hall gebaut hat) 1877 in Salisbury Cathedral errichtet hat. Es ist ein großes Instrument mit einem ganz außergewöhnlichen Klang, der sich herrlich im Raum des großen Gotteshauses entfaltet. Im Booklet-Text schreibt Challenger entsprechend: „Anstatt zu versuchen, einem Orchester den Rang abzulaufen, so sollte die Transkription ihren Wert als Orgelstück unter Beweis stellen. Aus diesem Grunde habe ich es weder versucht, die Klangfarben des Orchesters nachzuahmen noch war es mein Ziel, Vorgaben den der Transkribierenden zu kopieren. Stattdessen wollte ich es dem Instrument in Salisbury erlauben, durch seine ihm eigenen Qualitäten zu überzeugen.“
Leider muss man sagen, dass dieses Ziel im Rahmen dieser Produktion aus dem Hause Regent nicht erreicht wird. Das Problem ist sicher nicht das Instrument, auch Challengers Spiel und Registrierung geben im Prinzip wenig Raum zur Kritik. Das Problem ist vielmehr, wie die Father-Willis-Orgel hier tontechnisch eingefangen wurde. Man hat aus zu großer Entfernung aufgezeichnet, was insgesamt zwar zu einem weiten, raumfüllenden Eindruck, aber gleichzeitig zu einem einigermaßen wenig präsenten, muffigen und nicht selten verwaschenen Klang führt, der über weite Strecken wenig befriedigend erscheint. Speziell die vielen leisen Passagen verschwimmen stark und Datails der Registrierung sind kaum wahrnehmbar. Ein gutes Beispiel dafür, wie unerfreulich das ist, ist die Wiedergabe von „Une Idylle“ op. 4 Nr. 1 im Arrangement von Alfred Redhead, das Challenger zwar delikat und höchst pastoral registriert, das aber aufgrund des Schwammigen Raumklangs eher pastos-soßig wirkt. Ähnliches gilt für Challengers eigenes Arrangement der „Mediatation“ aus „The Light of Life“ op. 80 und Brewers Transkription der berühmten „Angel’s Farewell“ aus „The Dream of Gerontius“). Lediglich das Larghetto aus der Streicherserenade op. 20 (arrangiert von Caleb Henry Trevor) schafft es in Challengers lichter Registrierung ganz nah beim Hörer zu sein. Wenn das Instrument indes aufgezogen wird (wie in den jeweiligen Arrangements des Imperial March op. 32, des Coronation March op. 65, des Empire March oder im Prelude zu „The Dream of Gerontius“) dann kann man zumindest erahnen, was für eine Klangfülle und Klangkraft die Father-Willis-Orgel entfalten kann. Schade, dass diese Qualitäten auf dieser Aufnahme über weite Strecken wie hinter einem kaum durchsichtigen Schleier verschwinden.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
Spielzeiten: 18:41 / 06:55 / 11:48 / 11:28
Vasily Petrenko wird allenthalben als hervorragender Interpret Shostakowischs gefeiert und das ohne Zweifel zu recht. Seine Einspielungen der Symphonien mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra werden hoch gelobt, auch sein Rachmaninow gilt als ausgesprochen gut. Kürzlich ist nun auch seine erste Aufnahme eines Werkes Edward Elgars veröffentlicht worden.
Doch überzeugend ist das, was Petrenko hier vorlegt nur, wenn man sich einen möglichst rasanten, leidenschaftlichen, knackigen Elgar mit viel Rambozambo wünscht. Man darf nicht auf der Suche nach einer sonderlich „Elgar’schen“ Lesart des Werkes sein, auch wenn es Momente gibt, in denen Petrenko auch diese anpeilt. Doch alles in allem scheint es ihm hier um eine möglichst sportlich-glanzvolle Interpretation zu gehen, wobei sich der Reiz dieses Ansatzes spätestens nach dem zweiten oder dritten Hördurchgang verbraucht und deutlich wird, dass es dieser Interpretation vornehmlich an einem fehlt: an Tiefgang.
Der Einstieg ins Werk gelingt Petrenko gut. Das Motto wird dezent vorgetragen, ganz „espressivo“ – so wie es Elgar wollte. Die Wiederholung im Fortissimo (Ziffer 3) ist feierlich, klingt aber etwas lärmend. Die Emphase, die Sir Colin Davis mit der Staatskapelle Dresden diesen Takten entlockt, stellt sich nicht ein. Mit sehr viel Schwung stürzt sich Petrenko in das Allegro, immer den Blick auf Rasanz, nach vorne strebender Bewegung und Dramatik gerichtet. Doch letztere kann sich nicht entwickeln, da Petrenko sich nicht auf die immer wiederkehrenden geheimnisvoll abschattierten Passagen, die plötzlich auftauchenden dunklen Momente einlassen kann, die Elgar hier und auch im Finale immer und immer wieder einbaut. Da gelingt nicht nur die Vorstellung des zweiten Themas nicht, sondern auch viele andere Stellen, die Petrenko zwar in der Dynamik zurücknimmt, aber nicht im Tempo. Vergleicht man diesen schon fast mechanisch durchgeschlagenen Puls mit Elgars eigener Aufnahme von 1930, so fällt unmittelbar auf, dass diese Musik auf einen Interpreten angewiesen ist, der Meister des Rubato ist. Petrenko erweist sich hier nicht als ein solcher. Und so mangelt es diesem und auch allen anderen Sätzen an einem: an Farbe. Auch wenn es sich paradox anhört, so kann man sagen, dass es sich um eine monochrome Lesart handelt, die auf Glanz aus ist. Hinzu kommt, dass es im ersten Satz immer wieder Momente gibt, bei denen das Gefühl aufkommt, Petrenko könne nichts mit der Musik anfangen, so beispielsweise ab Ziffer 44 (bis zur Coda): Was für ein Ausbruch – und wie statisch gespielt. Desgleichen der gesamte Schluss des Satzes: kein Atem, kein Zusammenhang. Stattdessen eine Aneinanderreihung von „Stellen“.
Das Scherzo kommt in Höchstgeschwindigkeit daher und dieser Satz darf das – streckenweise – natürlich auch. Petrenko peitscht das fulminant aufspielende Royal Liverpool Philharmonic Orchestra durch diesen mahleresken Marsch, dem er ohne mit der Wimper zu zucken eine an Schostakowitsch gemahnende Grelle anpinselt. Das kann man durchaus so machen und gut anzuhören ist das auch. Dann aber das Trio. Wieder zeigt Petrenko wenig Sinn für die breite Palette der Elgar’schen Klangfarben, Stimmungen und Stimmungswechsel. Da wird stramm durchmusiziert, wieder kein Geheimnis, kein magischer Moment, kein Kontrast zum so schön herausgearbeiteten plakativen Moment dieses Satzes.
Von Petrenkos Darstellung des Adagios, einem der schönsten Sätze, die Elgar komponiert hat, kann man enttäuscht sein. Nicht, dass man ernstlich davon sprechen könnte, dass die Wiedergabe misslungen wäre oder das Orchester schlecht spiele. Petrenko gelingt es aber nicht, aus der so herrlich reichhaltigen und gehaltvollen Textur dieses Satzes zu schöpfen, die Musik singen zu lassen (Elgar notiert ja immer wieder: cantabile). Wie einfallslos kommt beispielsweise das zweite Thema (und nicht nur das) daher - ohne einen Hauch von jener Nostalgie und Melancholie, die integraler Bestandteil jeder Musik Elgars sind. Vergeblich sucht man Momente besonderer Intensität (wie sie bspw. um die Ziffern 98, 101 oder 106 zu finden wären), es gibt keine „Ear-opener“, nichts Neues. Tatsächlich kann man den Eindruck gewinnen, dass man diesen Satz beiläufiger kaum musizieren kann.
Das Finale schließlich bringt keine Überraschungen mehr. Der zwielichtige Beginn kommt ziemlich spannungslos daher, das Allegro ist erneut ganz offenkundig auf wirksames Glanz und Gloria angelegt und Petrenko arbeitet sich mit einem Furor durch die eine von ihm erschlossene Dimension des Satzes, der einem Svetlanov alle Ehre gemacht hätte.
Wieder fehlt jedoch die Abschattierung, den Sinn für das stetige Spiel mit dem Chiaroschuro, das es auch in diesem Satz gibt. Sonderlich spannend ist das alles nicht, auch nicht am Ende des Satzes, wo Petrenko das „Grandioso poco largamente“ im Tempo noch anzieht, sodass man sich des Gefühls letztendlich nicht so recht erwehren kann, dass es dem Dirigenten weniger um eine ausgereifte Interpretation, eine durchdachte Auseinandersetzung mit Elgar, sondern um das Spektakel ging.
Dieser Veröffentlichung sollen noch weitere Elgar-Aufnahmen folgen. Man darf gespannt sein.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
The Dream of Gerontius, op. 38
Arthur Davies – Gerontius
Felicity Palmer – Angel
Norman Bailey – The Priest, The Angel of the Agony
London Symphony Chorus
USSR State Symphony Orchestra
Evgeny Svetlanov
(live: Moskau, 21.4.1983)
Melodya MEL CD 10 02266
Nicht selten hängt die Bewertung einer Aufnahme oder Aufführung eines bedeutenden Werkes klassischer Musik weniger an deren tatsächlicher Qualität, sondern an den Hörgewohnheiten des Bewertenden. Je bekannter das Werk und je gewachsener die Aufführungstradition, desto beschränkter wird bisweilen der Blick auf das vermeintlich Ungewöhnliche. Seit ihrem Erscheinen in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts kann man zu der vorliegenden Aufnahme von Edward Elgar „The Dream of Gerontius“ immer wieder lesen, sie sei „berühmt-berüchtigt“, „idiosynkratisch“, in Teilen geradezu exzentrisch, alles in allem eine Kuriosität. Diese Sicht spiegelt, es wird den Leser nicht verwundern, vornehmlich die britische Kritik an dieser Aufnahme wider, gab es andernorts in jenen Jahren ja kaum etwas, das man eine „Aufführungstradition“ des Werkes nennen könnte. Sargent, Barbirolli und Boult hatten bis dato der Welt gezeigt, wie der „Gerontius“ zu spielen sei. Diese Interpretationen waren die Benchmark, so wollte man das Werk hören. No experiments. In dieser Haltung liegt eine mir immer wieder begegnende problematische Beschränkung britischer Musikkritik, wenn es um Musik von der eigenen Scholle geht. Es muss immer alles so sein, wie man es "on the home turf" seit Olims Zeiten gemacht hat. Hörgewohnheiten wollen und müssen bedient werden, Abweichendes kann nicht überzeugend sein. Je mehr Mainstream, desto besser. Versucht man sich aber von dem Ballast des Vorurteils zu lösen und Svetlanovs Einspielung des Werkes so unvoreingenommen wie möglich zu begegnen, dann mag man eventuell konstatieren, dass seine Lesart a) gar nicht so exzentrisch ist und dass es sich b) um eine enorm packende, intensive, leidenschaftliche, ja: glühende Interpretation handelt, die manch eine andere, die ganz traditionell daherkommt – ich denke da an beispielsweise an Gibson (196) Rattle (1987) oder Hickox (1988) – an Ausdrucksstärke weit hinter sich lässt. Das liegt unter anderem daran, dass Svetlanov mit einem anderen Ansatz an das Stück herangeht, es – ähnlich wie es Sinopoli in seiner kaum fassbaren Interpretation der zweiten Symphonie Elgars tut – nicht als spezifisch britisches, sondern als Werk der europäischen Spätromantik ausleuchtet und dabei dessen Bezüge zu Wagner, zur Tradition der Grande Opéra, zu Strauss und zur symphonischen Sprache der europäischen Romantik überhaupt offen legt. Das macht die Aufnahme im positivsten Sinne außergewöhnlich, nicht dass hier und da ein Tempo schneller oder langsamer ist als man es üblicherweise kennt.
Tatsächlich finde ich gerade die oft kritisierten Orchesterpassagen (Preludes zu den beiden Teilen) ausgesprochen gelungen. Zudem empfinde ich die gestalterische Leistung des USSR State Symphony Orchestra, das ja mit diesem Idiom nur wenig Erfahrung hatte, rundum hervorragend. Das Prelude zu Part I, für dessen Gestaltung sich Svetlanov 11:09 Minuten Zeit lässt, finde ich auf seine Weise hervorragend. Sicher, Svetlanov blickt zielsicher an der Notation Viertel = 60 vorbei, aber was für eine Atmosphäre! „Mistico“ - das ist es, was Svetlanov hier liest, und das ist es, was er zum Klingen bringt. Sehr schön gelingt zudem das langsame Wogen des Più mosso – auch hier hört man am ehesten das von Elgar notierte „con molto espressione“. Immer wieder sind es die auf den Affekt zielenden Vortragsbezeichnungen, die Svetlanov wichtig zu sein scheinen, das „Appassionato“ oder das mit herrlich großer Geste realisierte „Con grandezza“ bei Ziffer 14. Auch das Vorspiel zu Part II nimmt Svetlanov – wenn man Erbsen zählt – „zu langsam“. Aber auch hier geht es ihm offensichtlich um die Verinnerlichung, um das notierte „Tranquillo“, weniger um das „Andantino“. Voller Intensität und atmosphärischer Dichte gelingen Svetlanov auch die kurze Orchesterüberleitung zum Haus des Gerichtes (Ziffer 72 „Larghetto“), die in ihrer zwielichtig-uneindeutigen Stimmung enorm spannungsvollen Takte vor der Ankündigung des Urteils (Ziffern 101-102) und der in seiner Unerbittlichkeit und gleißenden Härte erschütternde Moment, in dem die Seele Gerontius’ Gott schaut (Ziffern 118-120). Wie man sich an diesem Ausdruck intensivster Auseinandersetzung mit Komposition und Thematik stoßen kann, will sich mir nicht erschließen. Rundum erlebe ich Svetlanovs Arbeit an der Partitur auf ihre Weise als höchst überzeugend.
Zu den Solisten.
Arthur Davies, den ich bei Hickox (1988) einigermaßen gesichtslos finde, gefällt mir hier zwar insgesamt besser, aber dennoch spielt er nach meinem Empfinden eher im Mittelfeld der auf Tonträger verfügbaren Interpreten dieser bedeutendsten britischen Tenorpartie vor Peter Grimes. Auf der Haben-Seite ist sicher Davies Stimmmaterial zu verbuchen. Kraftvoll, klar und ohne störende Enge in der Höhe, glänzend im Timbre. Es gibt aber auch eine Downside. Davies ist nicht eben ein subtiler Gestalter. Es stört mich noch nicht einmal so sehr, dass er bis auf ganz wenige Ausnahmen keines der notierten Piani oder Pianissimi singt (beim herrlich gesetzten „Novissima hora est“ klappt’s immerhin), sondern einen im Prinzip sehr virilen Sterbenden präsentiert. Es sind auch nicht die zahlreichen Schluchzer und „coups de glotte“. Es ist die Facettenlosigkeit seiner Textausdeutung, das Fade seiner Interpretation besonders im zweiten Teil, die seine Gesamtdarstellung nach meinem Dafürhalten nicht über das Mittelmaß hinauswachsen lässt. Die Vielfalt der Gemütsregungen des Gerontius bzw. der Seele desselben, die ja seinen gesamten langen Dialog mit dem Engel durchzieht, wird von Davies kaum zum Ausdruck gebracht. Seine Stärke liegt eher im Bereich des Zupackenden, wie seine Wiedergabe der leidenschaftlichen Paradearie „Sanctus fortis“ zeigt. Hier notiert Elgar immer wieder Vortragsbezeichnungen, die zeigen, dass ihm durchaus eine extrovertierte Darstellung vorgeschwebt haben dürfte. So heißt es da immer wieder „con molto esaltazione“, „agitato“, „risoluto a stringendo molto“ oder auch „disparato“. Es ist jenes Stück im Gesamtzusammenhang, das am unmittelbarsten Elgars Bemerkung, er hätte den Part des Gerontius absichtsvoll mit „vollblutiger, romantischer […] Weltlichkeit“ gefüllt, in Erinnerung ruft und das am ehesten Bühnenqualität hat. Und hier ist Davies hervorragend. Es ist die Extraversion, die ihm liegt. Die Innenschau liegt ihm nicht. Doch ist es eben die Fähigkeit zu beidem, was einen ausgezeichneten Interpreten dieser Rolle auszeichnet. Davies bringt sie hier (und auch bei Hickox) nicht mit.
Ganz anders Felicity Palmer, die ich für eine ideale Interpretin Elgar’scher Mezzo-Partien halte (speziell ihre Interpretation der „Sea Pictures“ beispielsweise ist in meinen Augen unerreicht). Nicht nur, dass mich auch hier ihre warme, volle, aber nicht dicke, in der Höhe strahlende und im tiefen Register dunkle Stimme sofort für sich einnimmt. Es sind speziell ihre enorm am Text orientierte Darstellung, die geradezu exzeptionelle Arbeit am Text und die Fähigkeit kleinste Ausdrucksnuancen und –schattierungen vollkommen schlüssig und ungezwungen umzusetzen, die mich immer wieder aufs Neue begeistern. Selten habe ich solche Stellen wie „A presage falls upon thee as a ray“ lichter, die die Dämonen beschreibenden Worte „Hungry and wild to claim their property“ gruseliger, die Ankündigung „Yes, for one moment thou shalt see thy Lord“ ehrfurchtsvoller, „Thy judgement is near“ düsterer oder den Beschluss des Werkes („Softly and gently“) wärmer, gütiger, ja im besten Sinne mütterlicher gehört. Anders ja, überzeugender nicht.
Norman Bailey präsentiert einen würdigen Priester, wobei er sich bei dem „Profiscere, anima Christiana“ zunächst doch etwas zu sehr auf die wotaneske Größe seiner Stimme baut. Da erlebt der Hörer zunächst ein Fortissimo am Rand des Brüllens. Doch schaltet Bailey schnell etwas herunter und versucht diese kleine Partie zumindest etwas zu gestalten. Besser gefällt sein Angel of the Agony, den er mit großer Intensität als schon fast verzweifelt Flehenden präsentiert.
Der London Symphony Chorus wurde von Richard Hickox tadellos einstudiert. Sicher, bisweilen klingen die Chöre etwas mulmig, dies scheint aber im Wesentlichen den Aufnahmebedingungen geschuldet zu sein. Insgesamt wird tadellos gestaltet. Das „Kyrie/“Holy Mary, pray for him“ klingt wunderbar entrückt, die „Be merciful“-Passage voll zurückhaltender Ehrfurcht. Dem Bittgesang „Noe from the waters“ indes fehlt vielleicht etwas das Ätherische. Packend und voller Klangkraft gelingt das „Finale“ des ersten Teiles „Go, in the name of Angels and Archangels“. Hier offenbart sich erstmals die gesamte enorme dynamische Bandbreite des großen Ensembles, die wirklich beeindruckend ist. Hat man zunächst das Gefühl von einem regelrechten Sturm der Festlichkeit hinweggefegt zu werden, so säuseln die letzten verklärenden Takte („May thy dwelling be the Holy Mount of Sion“) ätherisch-licht an der Grenze des Unhörbaren. Wie eindrucksvoll mag das wohl dereinst live im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums geklungen haben? Enorm ausdrucksstark gelingt auch der von Svetlanov mit maximalem Biss genommene, ja beinahe gewalttätig daherkommende Dämonenchor. Schlicht exemplarisch gelingt dem LSC die Gestaltung. Nachgerade ätzend werden die Textzeilen „Each forfeit crown / To psalmdroners, / And canting groaners, / To ev’ry slave, / And pious cheat, /And crawling knave“ heraus- und dem Hörer geradezu ins Gesicht gespuckt. Grässlicher kann man das wilde Gelächter der höllischen Kreaturen kaum herausschreien, sinnvoller einer Überzeichnung nicht einsetzen. Der Chorsatz „Praise to the Holiest“, bei dessen Einsatz sich Chor und Orchester schon am Rande des Bombastes bewegen, gelingt in seiner Gänze ebenso wie der sanft-melancholische Schluss.
Insgesamt eine Aufnahme, an der man, wenn man sich für das Werk interessiert, nicht vorbeigehen sollte.
Das Booklet bietet einen lesenswerten Einführungstext von Elena Kuznetsova in russischer, englischer und französischer Sprache. Das Libretto ist nicht enthalten.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
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Edward Elgar: The Dream of Gerontius, op. 38
Paul Groves - Gerontius
Sarah Connolly - The Angel
John Relyea - The Priest, The Angel of the Agony
Staatsopernchor Dresden
Staatskapelle Dresden
Sir Colin Davis
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Die Kantate „Scenes from the Saga of King Olaf“ op. 30 und die Chorballade „The Banner of Saint George op. 33 gehören zu jenen Werken, die bislang jeweils nur einmal eingespielt wurden. Es waren Richard Hickox und Vernon Handley, die beiden britischen Sachverwalter des Ungehörten, die sich 1985 (King Olaf) und 1986 (The Banner) erstmals auf Betreiben der Elgar Society dieser Werke angenommen haben. Seitdem: nichts. Gäbe es auch keinen anderen Grund, so wäre es allein darum erfreulich, dass Sir Andrew Davis im Rahmen seiner Elgar-Aufnamen für Chandos die beiden Kompositionen nach 30 Jahren erneut eingespielt hat.
Gerade im Falle des „King Olaf“ durfte man besonders gespannt sein, da Handleys an sich durchaus packende 1985er Aufnahme des ursprünglich für das North Staffordshire Triannial Musical Festival von 1896 komponieren Werkes eine zentrale Schwäche hatte: die Solisten. Weder Teresa Cahill noch Philip Langridge noch Brian Rayner Cook taten dem Werk mit ihren uninspirierten Darstellungen der Solopartien damals einen sonderlichen Gefallen. Da schlagen sich Sopranistin Emily Birsam, Tenor Barry Banks und Bariton Alan Opie um ein Vielfaches besser, auch wenn speziell Banks keine Idealbesetzung ist.
Banks, der vom Belcanto kommt, bringt einfach keine ideale Stimme für die Rolle des Olaf mit. Hier ist kein lyrischer Tenor gefragt, sondern ein kraftvoller Heldentenor. Banks Stimme hingegen ist leicht, geschmeidig, sehr in Hals und Kopf sitzend. Es fehlen Fülle und bisweilen auch echte Durchschlagskraft. Geht es ins Forte, ja ins Fortissimo, so beginnt die Stimme ausgesprochen stark zu vibrieren. Zudem neigt er besonders in den ersten Szenen des Werkes zu Schluchzern und Portamenti, die sich bei Bellini sicher gut machen, hier aber nicht. Ausgesprochen schön klingt er allerdings dort, wo er sich nicht anstrengen muss. Lyrische Momente, wie beispielsweise „O brothers of Iceland“ oder die Liebesszene mit Thyri („Thyri, my beloved“), die ohnedies zu den innigsten Momenten des Werks gehört, geben ihm die Möglichkeit, seinen vokalen Balsam überzeugend zum Einsatz zu bringen. Tritt man vom rein klanglichen Moment zurück, so kann man sich ganz besonders an Banks zupackender und seiner szenischen Art der Darstellung erfreuen. Auch wenn gerade die Solopartien des "King Olaf" sicher nicht zu Elgars stärksten Eingebungen gehören, so setzt Banks doch alles daran zu zeigen, dass diese Kantate sich streckenweise sehr nahe an der Oper bewegt. Wie deutlich wird hier die Tragik, dass wir keine Oper aus Elgars Feder haben.
Gleiches gilt auch für die Darstellung der drei Frauengestalten des Werkes (Gudrun, Sigrid und Thyri) durch Emily Birsan. Sie versucht (und das ist bei der wenig differenzierten Herangehensweise Elgars an diese Figuren) jeder dieser drei Frauen zumindest im Ansatz ein eigenes Gesicht zu verleihen, was ihr – ganz im Gegensatz zu Teresa Cahill bei Handley – auch überzeugend gelingt. Man höre im Vergleich beispielsweise Sigrid großen Ausbruch „I hear them from pole to pole". Hinzu kommt, dass Emily Birsan einen ausgesprochen klangschönen, jugendlichen und körpervollen Sopran mitbringt, von dem eine exzeptionelle Strahlkraft und Wärme ausgeht (man höre das Duett Olaf/Thyri).
Schließlich überzeugt auch Alan Opie, dessen kraftvoller Bariton zunehmend an dunkler Färbung hinzugewinnt, rundum. Als einer der führenden Verdi-Sänger Großbritanniens ist er ein hervorragender Gestalter, der immer ausgesprochen nah am Text interpretiert, sei es in den Rezitativen des Skalden oder als starrsinniger Nordmann „Ironbeard“, der Partout nicht zum Christentum übertreten will. Überhaupt gehört die Szene „The Conversion“, in die die Ironbeard-Episode eingebettet ist, zu den stärksten Momenten dieser Aufnahme.
Der größte Anteil der Kantate wird indes nicht von den Solisten, sondern vom Chor gestaltet. In der vorliegenden Aufnahme nun vereinigen sich die drei norwegischen Ensembles Edvard Grieg Kor, Collegiûm Mûsicûm Choir und der Bergen Philharmonic Choir zu einem großen. Die Einstudierung oblag Håkon Matti Skrede. Leider ist es gerade die Gestaltung der vielen in ihrer Atmosphäre, ihrer Farbe, im Affekt und ihrer strukturellen Aufgabe vollkommen unterschiedlichen Chöre, die – in Bezug auf die gesamte Aufnahme gesehen – deren Schwachpunkt darstellt.
Natürlich gibt es ganz wunderbare Momente. So gelingt die düster-ossianische Introduktion „There is a wondrous book“ atmosphärisch ausgesprochen dicht, die choralartige Stelle „Then o’er blood-stained Horg-stone / The Cross of Christ was seen“ klingt wie aus einer besseren Welt, das berühmte „As torrents in summer“ geht zu Herzen und im Finale „Stronger than steel“ lassen es die Ensembles so recht krachen. Aber es gibt viele Passagen, bei denen sich eine gänzlich unpassende Biederkeit und Motivationslosigkeit breit macht. Hier hätte Davis, der ganz offensichtlich und begrüßenswerterweise eine bühnenmäßig-dramatische Interpretation dieses Werkes im Auge hat, vom Chor ein deutlich höheres Maß an gestalterischer Griffigkeit, ein Quantum mehr an Biss verlangen müssen. So bleiben so packende Chöre wie „The Challenge of Thor“ („I am the God Thor“) oder „The Wraith of Odin“ („The guests were loud, the ale was strong“) eher blass, wenig knackig und monochrom. Hinzu kommt – und hier liegt ein aufnahmetechnisches Problem der Einspielung –, dass die Chöre oft zu sehr im Hintergrund verortet sind, was eine bisweilen wirklich schlechte Verständlichkeit des Textes und eine gewisse Überlagerung des Chores durch das Orchester (hervorragend durchweg das Bergen Philharmonic Orchestra!) nach sich zieht.
Nicht grundsätzlich anders ist es im Falle der vorgelegten Interpretation der Chorballade „The Banner of Saint George“. Das Werk, das anlässlich des Diamantenen Thronjubiläums von Queen Victoria 1897 vom Verlagshaus Novello bei Elgar in Auftrag gegeben worden war, lag bislang nur in Richard Hickox’ hervorragender Einspielung vor, mit der sich einst besonders „sein“ London Symphony Chorus ein hervorragendes Zeugnis ausstellte. Sir Andrew Davis fokussiert – wie auch Hickox – das dramatische Element der knapp halbstündigen Komposition. Wunderbar gelingt es ihm immer wieder, die drei Chöre zu hervorragenden Momenten zu führen, sei es im Klagegesang der Frauen von Sylene (No more they charm“), beim Auftritt des Drachentöters George („Hark! ’tis the ringing hoof of steed“) oder im pompösen viktorianischen Jingoismus des Epilogs („It comes from the misty ages / The banner of England’s might“). Aber: es sind Momente. Dazwischen immer wieder Strecken, die ungeheuer unmotiviert klingen (man höre: „Forth from the palace“ oder „O calm your hearts“). Dazu auch wieder die Tatsache, dass der Chor nicht selten zu stark vom Orchester überlagert wird (das auch hier ausgesprochen dramatisch und vielfarbig an die Gestaltung der Partitur geht).
Und doch: In beiden Fällen handelt es sich, auch wenn man hier und da sicher Abstriche machen muss, um insgesamt hörenswerte Interpretationen, die im Schrank eines Elgar-Aficionados nicht fehlen sollten. Das Booklet enthält einen höchst lesenswerten Text des ehemaligen Vorsitzenden der Elgar Society Andrew Neill und den kompletten Text beider Werke.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
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Simon Callow, BBC Concert Orchestra, John Wilson
Orchestra of St Paul's, Ben Palmer
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Oramo (2012) – Royal Stockholm Philharmonic Orchestra: 19:24 / 08:15 / 11:55 / 12:24
BIS-1939
Nachdem Sakari Oramo und das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra im vergangenen Jahr eine zwar hörenswerte, mir persönlich insgesamt etwas zu glatte Einspielung von Elgars zweiter Symphonie vorgelegt haben, so folgte nun die Veröffentlichung der ersten Symphonie, die im Mai 2012 aufgezeichnet wurde.
Das interpretatorische Konzept, das Oramo für die zweite Symphonie entwickelt hat, wird hier weitgehend übernommen. Der Hörer begegnet einem höchst agil musizierten Elgar, einer Lesart, die versucht, der Unmenge an Artikulationsvorgaben Elgars gerecht zu werden, die sehr rhythmusbetont daherkommt und sich klanglich nicht selten an Norringtons schlackenfreier Herangehensweise zu orientieren scheint. Und doch will sie mir nicht so recht gefallen.
Bereits der Anfang, also die Vorstellung des „Mottos“, zieht mich nicht – wie etwa bei Colin Davis – in seinen Bann. Das „ideale Thema“ wird vollkommen glatt, ohne ein Fünkchen Vibrato, im Piano vorgestellt. Das kann man mögen, besonders wenn die Wiederholung im Fortefortissimo einen deutlichen Kontrast dazu darstellt. Dazu kommt es aber nicht. Sicher, das Thema erklingt nun laut, aber es ist nur eine Wiederholung, die eigentliche Stimmung, die Atmosphäre verändert sich nicht, zumal dem Fortefortissimo etwas die Emphase fehlt. Nach meinem Dafürhalten geht es in diesem Moment um eine Überwältigung durch Klang, die sich hier nicht so recht einstellt. Schwungvoll und sehr federnd geht es in die Exposition. Hier und dann auch in der Durchführung fehlt mir die Leidenschaftlichkeit des Musizierens und die Leidenschaftlichkeit des Gestaltens. Oramo brennt nicht für Elgar, er liefert eine wohldurchdachte Analyse, sodass das Ganze auf mich einen sehr kopflastigen Eindruck macht. Hinzu kommt, dass sich Oramo ziemlich stramm durch den Satz arbeitet und es dabei übersieht, das Changieren zwischen Hell und Dunkel, das diese Musik durchzieht, prägnant herauszustellen. Man kann ja bisweilen lesen, Elgars Musik sei nichts als ein großes „Pomp and Circumstance“. Sieht man von der Eindimensionalität solcher Aussagen ab, so kann man hier begreifen, wie es überhaupt zu einer solch abwegigen Bewertung kommen kann. Oramo schafft es nicht, den Farbenreichtum dieser Musik, der durchaus vorhanden ist, aus ihr herauszulocken. Wo ist das Geheimnisvolle, das Gefährliche, das Träumerische, das den Satz durchzieht, wo die von anderen Dirigenten und Elgar selbst so hervorragend gestalteten atmosphärischen Übergänge und Veränderungen? Oramo sieht nur das nach vorn drängende Element, den Biss, das Virtuose. Zudem gibt es sowohl in der Durchführung als auch insbesondere in Reprise und Coda Momente, denen vollkommen der Bogen abgeht, wo es nach Stückwerk klingt. Ich bin der Meinung, das man das Mosaikartige der Elgar’schen Kompositionstechnik natürlich herausarbeiten muss. Doch bleibt diese Musik immer irgendwie sanglich. Und das darf nicht – wie hier – verloren gehen.
Den Beginn des zweiten Satzes finde ich gelungen. Oramo ist hier in seinem Element und lässt entsprechend knackig aufspielen. Der Marsch kommt mit ordentlicher Wucht daher, die Mahler-Nähe dieser Takte ist schön herausgestellt. Das erste Trio („wie etwas, das man unten am Fluss hört“) klingt sehr nach Mendelssohn’schen Elflein, es ist wie ein Lichtstrahl aus der deutschen Frühromantik, der plötzlich hier hineinfällt. Das zweite Trio bremst Oramo dann aus mir unerfindlichen Gründen aus. Da klingt es auf einmal recht schwerfällig und besonders gegen Ende recht erdenschwer. Der Wechsel der Atmosphäre (ab Ziffer 87) gelingt dann wieder nicht so recht, der dunkel-unklare Ton der zum Adagio überleitenden Takte stellt sich nicht wirklich ein.
Plötzlich befindet sich der Hörer nun im Adagio, ohne dass er weiß, warum. Eigentlich geht dieser Satz unmittelbar aus dem an sich immensen Spannungsaufbau der ersten Sätze hervor und dient als Moment des (nicht unangefochtenen) Innehaltens vor dem erneut kämpferischen Finale. Da aber Oramo bis zu diesem Moment nur wenig Gesamtspannung aufgebaut hat, kann der Satz seine Wirkung nach meinem Dafürhalten nicht so recht entfalten. Hinzu kommt eine einigermaßen nüchterne Herangehensweise an den Satz. Ich wünsche mir das anders. So fehlt mir durchweg – gleich bei Ziffer 93 (Aufbau zum ersten Forte) kann man das gut hören – Sinn für Linie, Bogen, große Geste. „Cantabile“, „espressivo“, „molto espressivo“ soll es immer wieder sein. Doch ein so recht süffiges Aufblühen dieser herrlichen Musik erlebe ich hier nicht. Auch die Vorstellung des so emotionalen zweiten Themas bleibt trocken. Erst die letzten Takte, so etwa ab Ziffer 104 (Molto espressivo e sostenuto), klingen nach Elgar.
Das Finale beginnt einigermaßen langsam. Besonders die Staccati der Fagotte und Celli sind ziemlich schwer genommen. Und doch wirkt dieser Anfang, der besonders Elgar selbst so ausgesprochen gut und atmosphärisch dicht gelingt, einigermaßen nichtssagend. Doch kaum steht ein „risoluto“ in der Partitur (Beginn der Exposition), schon legt Oramo los. Da wird ein enorm flottes Tempo angeschlagen und rein ins Getümmel. Doch auch im Verlauf dieses ohnehin nicht einfach zu meisternden Satzes gelingt die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Stimmungen nicht. Der Satz wird flott, glanzvoll und somit vornehmlich eintönig durchgespielt. Hinzu kommt ein Hang zu einem (gefühlten) Dauerfortissimo, der schlussendlich dazu führt, dass die eigentlich Apotheose des Satzes und der gesamten Symphonie (Wiederauftreten des „idealen Themas“) als solche kaum noch auffällt. Das Pulver ist schon verschossen.
Zusammenfassend kann ich für mich festhalten, dass Oramos Interpretation der ersten Symphonie keine ist, die mich für das Werk begeistern könnte. Im Gegensatz zur seiner nicht uninteressant musizierten Zweiten, wirkt diese Darstellung auf mich eher eindimensional, desinteressiert, streckenweise schon fast lieblos – gerade so, als hätte man die Erste einspielen müssen, weil man die Zweite schon im Kasten hatte. Eine meiner Meinung nach vertane Chance.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
SOMMCD 252
„Der Geiger aus dem Irrenhaus“ nannte Volker Schmidt seinen Elgar anlässlich des 75. Todestages würdigenden Artikel in der „Zeit“. Kennt man sich in Elgars Biografie nicht aus, so kann dieser Titel gedanklich schnell in die Irre führen, denn kam Elgar nicht in aus dem Irrenhaus, sondern ging in es hinein – und zwar als Musiker, nicht als Patient.
Elgar war als Komponist und Instrumentalist weitgehend Autodidakt. Er, der Sohn eines Musikalienhändlers, kam naturgemäß schnell mit Musik und Instrumenten in Berührung, spielte als Kind die Geige, lernte Klavier und das Fagott. Schon als Jugendlicher spielte er mit seinem Vater im „Worcester Glee Club“ und im „Worcester Philharmonic Orchestra“, arrangierte, komponierte, dirigierte und gab Geigenunterricht.
Im ländlichen Umfeld der kleinen Stadt Worcester, die zu jener Zeit etwa 27.000 Einwohner zählte, kannte man also den Namen Elgar – zunächst als den des lokalen Musikladens, ab den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts kannte man – wenn man sich denn für Musik interessierte - auch den Namen des Sohnes des Hauses: Edward.
Für Musik interessierte sich in dieser Gegend besonders Dr James Sherlock, Leiter des „Worcester City and County Lunatic Asylum“, das in dem kleinen Nachbardorf Powick gelegen war. Sherlocks Interesse war vornehmlich von den therapeutischen Möglichkeiten von Musik geleitet. Um diese Möglichkeiten zu untersuchen und ggf. auch zu nutzen war bereits 1856 eine „Brass Band“ in Powick gegründet worden, die sich im Laufe der Jahre zu einem kleinen Orchester entwickelte, das zunächst von Elgars Violinlehrer Frederick Spray geleitet wurde. Diese Band spielte freitags für die Patienten der Anstalt zum Tanz auf. Sherlock war vom therapeutischen Nutzen der Musik offenkundig sehr angetan:
„Die wöchentlichen Tanzabende sind wie bislang fortgeführt worden und zeigen immer die gleichen positiven Ergebnisse: bei keiner anderen Art an Freizeitaktivität hat sich bislang ein so deutlicher kurativer Einfluss eingestellt und deren Wert wird auch noch dadurch verstärkt, dass eine große Anzahl von Patienten daran teilnehmen kann.“ (zit. n. Lyle, Andrew: Music for Powick Asylum. Begleittext zur Aufnahme SommCD 252, erschienen 2014.)
1879 übernahm Elgar den Posten von Spray und war bis Ende 1884 als „Bandmaster“ für die Musik in Powick zuständig. Er fand ein Orchester vor, das aus Mitarbeitern der Anstalt und anderen Musikern aus dem Umfeld Worcesters bestand, die Elgar wohl sämtlich kannte. Im besten Falle standen Elgar 19 Musiker zur Verfügung, wobei die jeweilige Freitagabend-Besetzung aber höchst variabel war, was sich auch in den unterschiedlichen Kompositionen zeigt. In voller Stärke umfasste das „Orchester“ folgende Instrumente: Piccoloflöte, Querflöte, Klarinette, 2 Kornette, Euphonium, Bombardon, acht Violinen, Viola, Cello, Kontrabass und Klavier. Nicht umsonst sprach Elgar später von seinem „exzentrischen Orchester“. Entsprechend des Anlasses hatte Elgar für diese Besetzung Tanzmusik zu komponieren, Musik, zu der die Patienten des „Asylum“ ausgelassenes „leg-wiggling“ betreiben konnten. Insofern erwarten den Hörer auf dieser CD, die erstmals die erhaltenen Powick-Musiken (und drei andere kleine Werke) vorstellt, keine ewigen Meisterwerke. Stattdessen hört man gut gemachte Unterhaltungsmusik des späten 19. Jahrhunderts, die nicht selten an Schubert’sche Tänze gemahnt oder dem Hörer bekannt vorkommt, weil sie Elgar, z.B. in den „Wand of Youth“-Suiten aufgegriffen hat. Tatsächlich kann man die Ansammlung der Polkas, Quadrillen und Lancers (einer Art Quadrille) als Elgar’sche Gute-Laune-Musik hören, die auf der vorgestellten CD vom Innovation Chamber Ensemble unter der Leitung von Barry Collett mit viel Spaß and der Freude musiziert wird. Tatsächlich mutet es wie ein Versuch der Ehrenrettung an, was Michael Kennedy in seiner großen Elgar-Biografie in Anlehnung an William Reed schreibt:
„Darüber hinaus enthalten die Quadrillen für Powick, wie schon W. H. Reed hervorgehoben hat, erstaunliche Beispiele von plötzlichen Brüchen in der Mitte eines Taktes, so wie man sie auch im Finale der zweiten Symphonie, im Finale des Cello-Konzertes und an anderen Stellen finden kann. Der Stil zeigte den Mann.“ (Kennedy, Michael: A Portrait of Elgar. Oxford 1968, S. 13. Übers. der Verf.)
Um dies wahrzunehmen, muss man schon sehr genau hinhören.
Für den an Elgar Interessierten eine unverzichtbare CD, die neben der weitgehend unbekannten Musik auch noch mit einem hervorragenden Einführungstext aufwarten kann.
(c) Wolfgang-Armin Rittmeier
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Symphonie Nr. 2 Es-Dur, op. 63