Boult’s Elgar. The Forgotten Recordings

Symphonie Nr. 2 • Choral Songs • In the South  

BBC Symphony Orchestra, Scottish National Orchestra, BBC Chorus

Sir Adrian Boult

 

SOMM RECORDINGS ARIADNE 5037-2 (2 CD)

 

 

„Ich entschied, dass Interpretation mein Job war.“ 

Sir Adrian Boults „vergessene“ Elgar-Aufnahmen

 

Kaum ein Dirigent – vielleicht mit Ausnahme von Sir John Barbirolli – wird so unmittelbar mit dem Werk von Edward Elgar assoziiert wie Sir Adrian Boult. Nicht nur, dass er persönlich mit dem Komponisten eng verbunden war und zu seinen Lebzeiten unzählige Konzerte leitete, in denen Werke des Komponisten zu hören waren (allein die zweite Symphonie hat er über 70 Mal dirigiert): auch seine Elgar-Diskographie ist ausgesprochen beeindruckend. Dass es da noch etwas geben könnte, das bislang noch nicht auf CD veröffentlicht worden ist, scheint kaum vorstellbar. Und doch: Elgar-Aficionados wussten, dass von den fünf kommerziell produzierten Aufnahmen der zweiten Symphonie die 1963 bei Waverley Records erschienene noch ihrer digitalen Veröffentlichung harrte. Umso erfreulicher ist es, dass sie nun endlich als eine „vergessene“ Boult-Aufnahme auf dieser insgesamt herausragenden Produktion aus dem Hause SOMM Recordings erscheint. Neben der Symphonie sind zudem eine Reihe von Part-Songs erstmals unter Boults Leitung zu hören. Die 1944er Einspielung von „In the South“ hingegen wurde bereits vor Jahren gemeinsam mit der exzeptionellen Aufnahme der zweiten Symphonie aus demselben Jahr bei Beulah Records veröffentlicht.

Als Bonus finden sich drei Radio-Features auf diesem Album, die ebenfalls ausgesprochen hörenswert sind. Der erste ist ein Ausschnitt aus der 1944 gesendeten BBC Sendung „Elgar and ‚Land of Hope and Glory‘“, in dem Boult kurz mit Carice Elgar Blake, Elgars Tochter, über die Entstehung der „Enigma Variations“ spricht. Des Weiteren gibt es Boults persönliches Radio-Portrait „Sir Edward Elgar as I knew him“, das 1951 entstand und schließlich erleben wir den Dirigenten in einem knapp halbstündigen, sehr kurzweiligen Gespräch mit dem Dirigenten und Radiomoderator Bernard Keefe, das 1965 entstand. Mit Keefe plaudert er über die Stationen seiner Karriere und natürlich über seine musikalischen Anfänge. Hier berichtet er, dass er durchaus anstrebte, selbst zu komponieren. Dies sei ihm aber während seiner Zeit in Oxford von Gustav Holst sehr taktvoll ausgeredet worden. Daraufhin habe er entschieden, dass Interpretation „sein Job“ sei. Dass dies eine richtige Entscheidung war, beweist auch dieses Album. 

Vitale Konzertouvertüre

Elgars 1904 komponierte Konzertouvertüre „In the South“ („Alassio“) findet in Boult einen idealen Interpreten. Boult ist Werk zum ersten Mal 1906 unter der Leitung von Hans Richter begegnet. 1918 hat er es dann als sein Elgar-Debut dirigiert. Der Komponist, der der Aufführung beiwohnte, zeigte sich begeistert. In Boults Partitur schrieb er: „Vielen Dank an Adrian Boult, der die Freundlichkeit besaß, diesem Werk eine wunderbare Aufführung zuteilwerden zu lassen. Edward Elgar, 1918.“ Die 1944er Einspielung präsentiert dem Hörer eine typische Boult-Lesart Elgar’scher Musik: klarer, eher hoher Grundpuls, ausgezeichnete Tempodramaturgie, stimmiges Handling der bisweilen nicht eben leichten Übergänge, unbeirrbar schlüssige Vorstellung hinsichtlich der unterschiedlichen Stimmungen, die das Werk durchziehen und die ihm bisweilen den Ruf einbrachten, zu episodisch und nicht stringent genug konstruiert zu sein. Boults Könnerschaft führt allerdings dazu, dass man auf derlei Gedanken kaum kommt. Wunderbar gelingt der von Vitalität strotzende Beginn, wuchtig gelingt der von Elgar die Vision einer Legion römischer Soldaten heraufbeschwörende Abschnitt ab Ziffer 20, höchst verinnerlicht, ja intim formt Boult das an zentraler Stelle stehende Lied für Solobratsche, das sicher als eine Hommage ein Hector Berlioz‘ „Harold in Italy“ zu verstehen ist. Viel stimmiger kann man diese Komposition im Grunde nicht gestalten. Das BBC Symphony Orchestra spielt – vielleicht mag das Aufnahmejahr 1944 hier eine Rolle spielen, in welchem englische Städte im Rahmen des deutschen „Unternehmen Steinbock“ schwer bombardiert wurden – als gäbe es kein Morgen.

 Zwischen Drive und Understatement

Die Aufnahme der zweiten Symphonie entstand 1963 in Glasgow. Damit fällt die Aufnahme in den Lebensabschnitt, den Boult in seiner 1973 erschienenen Autobiographie „My Own Trumpet“ als „Retirement“ – also „Ruhestand“ – bezeichnete. Von Ruhestand konnte indes keine Rede sein, denn Boult, der zum Aufnahmezeitpunkt 74 Jahre alt war, sollte im Anschluss noch zwei kommerzielle Einspielungen des Werkes vorlegen und seine Tätigkeit als Dirigent erst 1981 offiziell beenden.

Tatsächlich ist die „schottische Aufnahme“ der zweiten Symphonie aber dennoch eine sehr ausgereifte Lesart des Werkes, eine Lesart, die sich im Anschluss nicht mehr entscheidend verändert hat. Schon der beginn des Werkes zeigt die übliche Boult’sche Herangehensweise: zügiger Einstieg, klar umrissene Attacke, vorantreibender Grundpuls, gekonnte Rubati. Ganz wunderbar gelingt Boult hier auch die Gestaltung des atmosphärischen Changierens. Faszinierend beleuchtet er insbesondere die zwielichtige Passage ab Ziffer 24, von der Elgar sagte: „Ich habe die außergewöhnlichste Passage komponiert, die ich je gehört habe - eine Art unheilvoller Einfluss, der in einer Sommernacht durch den Garten wandelt."

Der zweite Satz („Larghetto“) hat die Düsternis und die Schwere verloren, die Boults erste Aufnahme des Werkes im Jahre 1944 geprägt hat. Hier wirkt es nun im Gegenteil so als wolle Boult das Pathetische, das dem Satz durchaus innewohnt, nicht mehr akzentuieren, sondern es sich gleichsam durch maximale gestalterische Zurückhaltung wie von allein entfalten zu lassen. Dies schadet ihm in keinem Moment: es fehlt weder an Chiaroscuro noch an Nostalgie oder gar an Espressivo. Aber diese Stimmungen sind nicht das Zentrum, sie ziehen eher wolkengleich durch. Es sind die beiden großen Steigerungen (Ziffer 74 ff. und Ziffer 83 ff.), die Momente des Lichts, die Boult als hoffnungsvolles Ziel des Satzes ansteuert. Und obschon dies in der Sache gelingt, so sind diese beiden nobilmente zu spielende Momente gleichzeitig jene, in denen es deutlich wird, das das SNO in jenen Jahren sicherlich ein gutes, aber doch nicht herausragendes Orchester war. Das fehlt es insbesondere dem etwas dünnen Streicherapparat doch erkennbar an dem größeren, luxuriöseren, goldeneren Streicherklang, den etwa die Londoner Orchester mobilisieren konnten. Das tut indes dem positiven Gesamteindruck, den der Klangkörper hinterlässt, keinen wirklichen Abbruch. Allerdings lässt die Spannung in Dirigat und Ausführung in den sich anschließenden beiden Sätzen erkennbar nach. Zunächst gelingt es Boult nicht durchgehend dem Rondo jenen manischen Drive zu verleihen, der schließlich mit ungebremstem Momentum in der brutalen „Maude“-Episode gipfelt, in der Perkussion und Blech das restliche musikalische Geschehen gleichsam gewalttätig unterdrücken (Ziffer 121 „martellato“). Und auch das Finale könnte überzeugender sein. Bei aller kunstvoller Austariertheit hinsichtlich des Gesamtaufbaus fehlt es hier doch etwas an grundlegender Begeisterung. Gleich dem ersten Thema fehlt es an Enthusiasmus, ein Zuviel des Understatements findet sich auch bei der Darstellung des Motivs bei Ziffer 139 und beim „Hans himself“-Thema, mit dem Elgar Hans Richter seine Ehre erweist. Bei allem Sinn für stille Einheit und edle Größe: dieser Satz zeitigt seine Wirkung nur, wenn man ihn „high risk“ spielt. Dazu sind Boult und das SNO hier jedoch nicht recht bereit. Dennoch: eine hörenswerte Aufnahme, über deren Veröffentlichung man sich freuen darf!

Aus der englischen Chortradition

Schließlich präsentiert das Album Boult als Chordirigent. Unter seiner Leitung spielte der BBC Chorus 1967 Elgars „Four Partsongs“ op. 53, die „Two Choral Songs op. 71, die „Two Choral Songs“ op. 73 sowie „Death on the Hills“ op. 72 und „Go, song of mine“ op. 57 ein. Die zum Teil ausgesprochen anspruchsvollen Sätze (z.B. „Owls“ oder auch „Go, song of of mine“) machen dem großbesetzten Chor technisch keine nennenswerten Schwierigkeiten. Deutlich wird indes, wie sehr sich die Art diese Werke zu interpretieren und zu singen im Verlauf des vergangenen halben Jahrhunderts verändert hat. Boults Klangvorstellung wurzelt, das ist hier gut erkennbar, in der Vergangenheit der großen englischen Chortradition. Heute, fast 60 Jahre später, gehen Chöre anders an diese Sätze heran. Dennoch: ein Dokument von großem Interesse auf einem Doppelalbum, das man gehört haben sollte.

© Wolfgang-Armin Rittmeier