Edward Elgar

The Dream of Gerontius, op. 38

John Findon (Gerontius), Christine Rice (Angel), Roderick Williams (Priest, Angel of the Agony) 

Helsinki Music Centre Choir, Cambridge University Symphony Chorus, Dominante, Helsinki Chamber Choir, Alumni of the Choir of Clare College Cambridge

Finnish Radio Symphony Orchestra

Nicholas Collon (Leitung)

 

Ondine ODE 1451-2D (2 CD)

  

In extremis?

Nicholas Collon dirigiert “The Dream of Gerontius”

 

Nachdem er der legendären Aufführung von Edward Elgars „The Dream of Gerontius“ im Rahmen des Niederrheinischen Musikfestivals in Düsseldorf 1902 beigewohnt hatte, war der Rezensent des Berliner Tageblatts, Dr. Leopold Schmidt, bei weitem nicht so begeistert von dem Werk wie viele andere. Er befand aufgrund der insgesamt nur mäßigen Qualität des Werkes (er war der Meinung, es mache „einen monotonen, nicht gerade erfindungsreichen“ Eindruck) sei „auf ein dauerhaftes Interesse weiterer Kreise nicht zu rechnen“. Irren ist menschlich.

Tatsächlich machte der „Gerontius“ schnell Karriere und wurde schnell weltweit gespielt. In Großbritannien – so will es die Statistik – ist er auch heute noch das häufigste aufgeführte oratorische Werk nach Georg Friedrich Händels „Messiah“. Dementsprechend entwickelte sich mit Beginn der Tonaufzeichnung eine kontinuierliche Diskographie des Werkes, wobei die Aufnahmen lange vornehmlich aus Großbritannien stammten. Im kontinentalen Europa war das Interesse sowohl an dem Werk als auch an Elgar überhaupt nach dem Ersten Weltkrieg stark zurückgegangen. Erfreulicherweise haben die vergangenen zwei Dezennien jenseits Großbritanniens eine merkliche Elgar-Renaissance gebracht, sodass der „Gerontius“ wieder erheblich häufiger aufgeführt und auch recht regelmäßig eingespielt wird.

Finnisch-englisches Projekt

Die jüngste Aufnahme, soeben bei Ondine erschienen, ist ein finnisch-englisches Projekt. Es handelt sich um den Mitschnitt eines Konzertes vom 05. April 2024, das im Helsinki Music Centre unter der Leitung des britischen Dirigent Nicholas Collon, seit 2021 Chefdirigent des Finnish Radio Symphony Orchestra, stattgefunden hat. Das Konzert selbst wurde in der Tagespresse höchst positiv beurteilt. „Superb“ sei es gewesen, ja: „spektakulär“. Nun also liegt der Mittschnitt dieses Ereignisses auf CD vor.

Nicht immer, aber doch ab und an, neigen Mitschnitte dazu, das Live-Erlebnis – statt es intensiv herüberzubringen – ein wenig zu relativieren, fehlen doch bestimmte Parameter, die den Eindruck beeinflussen können: die Atmosphäre im Saal und die Ausstrahlung und Darstellungskraft der Ausführenden beispielsweise. Die nüchterne CD kann dies nicht immer transportieren. Dies ist bei dieser Einspielung nun der Fall.

Um es vorweg zu sagen: Collons Aufnahme des „Gerontius“ ist nicht verfehlt. Gleichwohl ist es doch keine, die aus dem Gesamtbild der bisher vorliegenden Einspielungen des Werkes herausragt. Exemplarisch lässt sich das an der Darstellung des Prelude zeigen, finden sich hier doch verschiedene Charakteristika, die Collons Lesart des Gesamtwerkes durchziehen. Bei aller Freude am Musizieren, die immer wieder zum Hörer durchdringt, fehlt es Collons Zugriff grundsätzlich etwas am dramatischen Zug nach vorn, am Herausarbeiten der Soghaftigkeit diese Komposition, an leidenschaftlicher Involviertheit. Stets scheint seine Darstellung das Understatement zu suchen. Das Stück schreitet gravitätisch voran, eine gewisse Zähigkeit macht sich breit. Es fehlt am inneren Brennen, an dem, was Elgar immer wieder kleingliedrig notiert: am „molto espressivo“, am „dolente“, am „appassionato“. Es wird zwar immer klangvoll gespielt – das Finnish Radio Symphony Orchestra findet sich ganz wunderbar ins Elgarsche Idiom ein und ist dazu auch technisch gut einfangen –, aber die Arbeit an den reichhaltigen Hinweisen zu Artikulation und Dynamik, ja an der Phrasierung insgesamt wirkt nicht sonderlich differenziert. Es herrscht eine gewisse distanzierte Gleichförmigkeit und diese bestimmt insgesamt letztlich den Charakter der gesamten Wiedergabe, insbesondere des ersten Teiles. Der zweite Teil gelingt indes überzeugender.

Ächzende Dämonen

Herrlich gelingt Collon zum Beispiel die Wiedergabe der auskomponierten Stille des Beginns, aber auch die großen Chorsätze sind vollauf überzeugend gestaltet. Da greift Collon nun voll hinein ins Leben der Partitur. Die höllischen Dämonen beispielsweise ächzen, stöhnen, schreien und lachen aufs Widerlichste, wenn „con fuoco“ und Fortefortissimi notiert sind, dann lässt es der Dirigent auch angemessen krachen. Die rauschenden Wohlklänge des „Praise to the Holiest“ werden ohne jegliche Scheu vor der dem Satz inhärenten Überwältigungsästhetik ausgekostet, sodass der diese große Chorszene abschließende C-Dur-Akkord über 9 Takte lang wahrlich die Wand wackeln lässt. Hätte Collon doch häufiger auf Dramatik statt auf Understatement gesetzt! Beispielsweise in jenen wenigen – und zwischen Elgar und seinem Lektor August Jaeger heiß diskutierten – Takten, in denen die Seele des Gerontius vor Gott tritt und ihn schaut (Ziffern 118 – 120). Hier hätte es einer höheren Innenspannung, einer geradezu qualvollen Steigerung und eines kataklysmischen Ausbruchs bedurft, um die Ungeheuerlichkeit dieses Momentes zu vermitteln. Stattdessen bleibt das – auch im Vergleich zu anderen Aufnahmen – eher vorsichtig.

Zusammenfassend mag festgehalten werden, dass Collons Darstellung des Werkes zwar rundum solide und nicht selten auch ausgesprochen klangschön ist, ihr aber doch der Mut zu Darstellung jener menschlichen Extremerfahrung fehlt, die dieses Werk eigentlich thematisiert.

Fehlende Ekstase

Der britische Tenor John Findon bringt – insbesondere für die Anforderungen des ersten Teils des Werkes – das rechte Stimmmaterial mit. Kraftvoll, technisch sicher und textlich in der Regel gut verständlich kommt er daher, ein auf dem Sterbebett (man kann sich des Eindruckes nicht erwehren) recht vitaler Gerontius. Die Ausleuchtung des Textes indes, die Charakterisierung des Sterbenden, sein panisches Schwanken zwischen inbrünstigem Glaubensbekenntnis und physischem Vernichtungsschmerz gelingt Findon nicht. Man rufe sich ins Gedächtnis, dass man hier Gerontius als Jedermann „in extremis“ erlebt. Statt aber konsequent an der Grenze zu gestalten und sich selbst und die Zuhörer an diese zu führen, verliert sich Findon in einer weitgehend gleichförmigen Verfasstheit. Dem „Sanctus fortis“ fehlt es an Ekstase, dem Abschnitt T. 514 ff. („I can no more, for now it comes again, / That sense of ruin, which is worse than pain…”) an existenzieller Furcht (Elgar notiert “agitato” und “disperato”), der Erkenntnis, dass der letzte Moment gekommen ist (“Novissima hora est”) fehlt der Blick auf das Transzendente. Dies ändert sich leicht im zweiten Teil. Hier gestaltet Findon flexibler und befreiter. Er hat eine Reihe von sehr schönen lyrischen Momenten und bewegt sich insgesamt näher am Text, wobei der Durchdringungsgrad weiterhin ausbaufähig erscheint. Hält man sich vor Augen, mit welcher Intensität insbesondere Jon Vickers, Nicolai Gedda, Richard Lewis, Peter Pears und – in jüngerer Zeit – Paul Groves die Partie gestaltet haben, so befriedigt Findons Darstellung nur in begrenztem Maße. Das Potential ist aber – und dies soll bei aller Kritik nicht unterschlagen werden – da.

Die Gestaltung der Partie des Engels, der die Seele des Gerontius durch das Jenseits hin zum Ort der Reinigung geleitet, obliegt der britischen Mezzosopranistin Catherine Rice. Sie liefert eine durchweg routinierte Darstellung der Partie ab, wobei ihrer Stimme etwas jene Wärme und Geschmeidigkeit abgeht, die hier wünschenswert wäre. So stellt sich das mütterlich-tröstende Moment, das dieser Rolle innewohnt („My father gave in charge to me / This child of earth“) und das eine herausragende Gestaltung verströmen kann, nur bedingt ein.  Gelegentlich hat man den Eindruck, sie hätte technisch etwas zu kämpfen, insbesondere beim Registerwechsel. Dazu gesellt sich ein Vibrato, das sich streckenweise jenseits der Grenze des Erfreulichen bewegt. Und doch: die erfahrene Bühnendarstellerin Rice ist für das Gelingen des langen Dialoges zwischen Engel und der Seele des Gerontius, der den zweiten Teil durchzieht, von entscheidender Bedeutung. Zum einen gestaltet sie diesen Dialog ausgesprochen schlüssig, zum anderen zieht sie hier John Findon mit, der so aus der Statik seines Vortrages im ersten Teil herauskommt. Und ihre Darstellung des „Angel’s Farewell“ („Softly and gently“)? Nun, sie gelingt recht gut, wenngleich vielleicht nicht ganz so verinnerlicht wie bei Janet Baker, Alfreda Hodgson, Anne Sofie von Otter oder Sarah Connolly.       

Als dritter Solist ist Roderick Williams mit von der Partie. Im ersten Teil zeichnet er für die Gestaltung des Priest, im zweiten für die des „Angel of the Agony“ verantwortlich. Die beiden kleinen Partien formt er mit der ihm eigenen Intelligenz des Liedsängers immer auf den rechten Punkt, den rechten Ausdruck hin. Allerdings scheint ihn die Aktivierung der hier geforderten Klangkraft anzustrengen. So vibriert er streckenweise – man ist es von ihm nicht wirklich gewohnt – so erheblich, dass es nicht mehr gut klingt. Davon ab eine tadellose Leistung.

Schließlich die Chöre und das Orchester. Collon hat – gemeinsam mit den Chorleitern Nils Schweckendiek, Seppo Murto, David Young und Graham Ross – die insgesamt fünf Chöre (Helsinki Music Centre Choir, Dominante, Helsinki Chamber Choir, Cambridge University Chorus und die Alumni of the Choir of Clare College, Cambridge) zu einem schlagkräftigen symphonischen Chor geformt, der den vielen anspruchsvollen und gestalterisch herausfordernden Aufgaben, die das Werk bietet, vollauf gerecht wird. Erwähnt wurde schon der exzellent dargestellte Dämonenchor und das fulminante „Praise to the Holiest“. Ob es nun aber diese beiden sind oder aber das „Kyrie / Holy Mary, pray for him“ und das „Be merciful, be grateful“, das mystisch psalmodierende „Noe from the waters“ oder das balsamische „Lord, Thou hast been our refuge“ das ist alles durchweg überzeugend, genau und voller Plastizität gestaltet. Insgesamt klingt das große Ensemble ausgesprochen jung und trotz der konditionellen Anstrengung, die das Werk fordert, weitgehend unangestrengt. Einziges Manko: Tontechnisch wurden die tiefen Stimmen wenig prägnant eingefangen, was zwar für einen lichten Klang sorgt, diesem aber gleichzeitig bisweilen das Fundament entzieht.

Das Finnish Radio Symphony Orchestra, das durchweg herausragend spielt, kann nur gelobt werden. Die enorm breite Palette, die „Gerontius“ an Klangfarben, Stimmung und Emotionen fordert wird im Rahmen der Gesamtschau des Dirigenten vollkommen sicher angesteuert und ausgeschöpft. Spielerische Defizite gibt es nicht. Im Gegenteil: Das klingt alles – vom schwermütigen Prelude über die festlichen Passagen (hier ganz besonders herrlich: die Harfen) bis hin zur grell-fratzenhaften Zeichnung des Dämonenchors und den tröstlichen Schlusstakten – hervorragend.   

© Wolfgang-Armin Rittmeier